Der sichere Weg zum Irrtum

Von Dr. Wolfgang Caspart

Die Menschheit leidet, also solle sie geheilt werden. Nimmt man eine angeblich für alle Konflikte und Leiden verantwortliche Ursache an, erschallt nach einer solchen monokausalen Diagnose der Ruf nach der „einen großen“ Therapie. Diagnose und Therapie werden einer universellen Methodik unterstellt, wodurch zugleich alle anderen Methoden relativiert werden. Die eine Ursituation gilt samt ihrer Lösung nunmehr für alle anderen Bereiche. Bestenfalls werden die anderen Probleme als Auswirkungen der verallgemeinerten Problematik verstanden. Generalisierung und Relativierung führen zur Reduktion aller anderen Dimensionen, Diagnosen und Therapien, divergierende Ansichten werden rigoros ausgemerzt. Generalisierung und Relativierung entwickelnden einer Neurose sui generis, die Reduktionsneurose.

Reduktion zur Ideologie

Wer eine singuläre Problematik diagnostisch auf ein allgemeines Kollektiv in dem Sinne überträgt, dass nicht nur Individuen, sondern angeblich alle unter derselben Ursache leiden, muss auch die Therapie generalisieren und allen aufdrängen. Die neurotische Fixierung und transzendierungsunfähige Absolutsetzung der verallgemeinerten Situation führt zugleich zur Relativierung aller anderen Zustände. Wenn die eine, alles beherrschende Problematik für jeden Menschen gilt und damit allgemein zutrifft, werden die anderen Probleme nur als weitere Folgen der universellen Situation begriffen und zugleich relativiert. Sie erscheinen ihrerseits als neurotische Rationalisierungen auf Seiten der Umwelt und Mitmenschen. Allen Fragen scheint die eine, alles bedingende Ursituation zu Grunde zu liegen. Die Reduktionsneurose mündet in die Ideologiebildung.

In Selbstreferenz werden vorrangig Informationen gesucht, welche die eigene Hypothese oder Absicht bestätigen und landet so in einem Übereinstimmungsfehler („confirmation bias“). Die eigene Hypothese falsifizierenden Informationen werden gar nicht erst aufgesucht, d.h. man stellt in einer „illusionären Korrelation“ Zusammenhänge her, die den wirklichen Tatsachen widersprechen. Die Vernachlässigung von Häufigkeitsinformationen wiederum führt zu nicht-repräsentativen Ergebnissen. Spektakuläre Einzelfälle werden hochgespielt, und statistische „Ausreißer“ beherrschen die politische Diskussion. Zugleich stützt man sich nur auf die leicht verfügbaren Informationen oder allgemeinen geglaubten Ansichten, womit man diese überbewertet und zugleich die schwerer zugänglichen und unbequemen Aspekte vernachlässigt. Indem man Folgeurteile einem Anfangswert anpasst, schlagen ständig „Verankerungs- und Anpassungseffekte“ durch. War der Anfangswert in einem ideologischen, utopischen oder dogmatischen Vorurteil verankert wird, bringt jede Folgeuntersuchung immer nur die apologetische Bestätigung der vorgefassten Meinung. Aber auch zu umgekehrten Strategien wird häufig gegriffen, wenn die Macht des Faktischen zu groß geworden ist: Ursprüngliche Aussagen werden nach dem Bekanntwerden des Ausganges eines Ereignisses durch den „Hindsight“-Effekt umbewertet. Man hat es mittels des sophistischen Kunstgriffs der Selbstreferenz „immer schon“ gewusst, es nicht „so“ gemeint und „eigentlich anders“ gesagt.

Die Geburtsstunde einer Ideologie hat dann geschlagen, wenn eine beliebige, empirisch gewonnene Theorie verabsolutiert und alle son­stigen Gesichtspunkte relativiert werden. Ob es sich beim Kernsatz um die Generalisierung psychische Leiden, sozioökonomischer Zustände, darwinistisch­biologischer Feststellungen oder was auch immer dreht, ist im Prin­zip völlig gleichgültig, stets bleibt der ideologiebildende Mechanis­mus derselbe. So viele empirische Hypothesen es gibt, so viele Ideologien lassen sich entwickeln. Alle Ideologien sind auf diese identische Grundstruktur zurückzuführen. Eine moralische Betroffenheit, ein Trauma, eine Erschütterung führen zur Ausbildung einer fixen Idee.

Generalisierung und Relativierung

Das erste grundsätzliche Dilemma jeglichen ideologischen Denkens tritt auf, sobald man sich fragt, warum gerade dieser oder jener und nicht irgendein anderer Satz verabsolutiert werden soll. Schon diese Frage sprengt den empirischen Rahmen. Bereits die Feststellung »XY ist absolut und alles andere daher relativ« liegt jenseits aller Naturwis­senschaftlichkeit, sie beruht auf einer »transempirischen« und damit quasi-metaphysischen Tatsachenbehauptung. Eine echte metaphysi­sche Aussage ist sie jedoch auch nicht, da der angenommene Inhalt der Theorie per definitionem empiristisch gewonnen wurde. Die Verabsolutierung der Theorie hängt also zusammenhanglos »in der Luft«, sie ist weder naturwissenschaftlich noch transzendental, son­dern schlicht ein gedanklicher Irrtum oder besser eine aus sich nicht schlüssige Erfindung.

In der Frage, welche Ideologie eigentlich die »richtige« wäre, und wie die Probleme um das richtige Verhalten mit aller Deutlichkeit aufzei­gen, verliert die Ideologie bei näherer Betrachtung ihre ursprüngliche Einfachheit und Klarheit, was natürlich auch ihren Anhängern nicht verborgen bleibt. Die nun notwendigen apologetischen Bemühungen werden komplizierter und — im psychologischen Sinn — rationalisti­scher, bis schließlich daraus eine neue eigene »Wissenschaft« entsteht, die im Lauf der Zeit in verschiedene Schulen zerfallen kann, wie dies am besten am Beispiel des historischen und dialektischen Materialis­mus (Histomat und Diamat im sowjetischen Jargon), dem Marxis­mus, vor Augen geführt werden kann. Mit diesen ins Gigantische an­wachsenden apologetischen Hilfskonstruktionen stecken wir inmit­ten des grundsätzlichen Dilemmas jeder Ideologie: Die psy­chologisch so wichtige und intellektuell bestechende Überschaubar­keit, Geschlossenheit und Einfachheit der Ideologie weicht einer immer unübersichtli­cheren Apologetik. Enorme Energien vieler an sich kluger Köpfe werden im vergeblichen Versuch gebunden, die „Metaphysik“ ihrer fixen Idee doch noch auf materialistischem Kurs zu umschiffen und der eigenen Ideo­logie vor anderen den Vorrang einzuräumen.

Mit der Generalisierung und gleichzeitigen Relativierung beginnt ein säkularisierter Mythologisierungsprozess, der weit über den Ansatz der ursprünglich zugrunde liegenden Theorie hinausführt und alle Lebensbereiche zu erfassen sucht. Da dies aber nicht nur eine, son­dern jede Ideologie tut, alle aber »wissenschaftlich« gleichrangig sind, so muß es zu einem erbarmungslosen Wettbewerb der Ideologien um die entwurzelten Seelen kommen, der sich in der immanenten gesell­schaftlichen und historischen Wirklichkeit als totaler und permanen­ter, heißer oder kalter, psychologischer wie waffentechnischer Krieg der ideologischen Lager äußert. Eine »friedliche Koexistenz« oder »Entspannung« kann es in ihm nur als Waffenstillstand geben, da die wechselseitigen Universalitätsansprüche aus Gründen des jeweiligen Selbstverständnisses bestehen bleiben. Der Reduktionismus auf die materialistische Empirie ist total und universell!

Vorurteil

Über empirisch gewonnene Theorien hinaus eignen sich auch Partialwerte für die Verabsolutierung zu Utopien, deren Generalisierungen nach dem Muster die Ideologiebildung vonstatten gehen: Für ganzheitliche Zusammenhänge blinde Fanatiker sind heute schon feste dabei, durch Ideologisierung noch Demokratie, Frieden, Emanzipation oder Umweltschutz obsolet zu machen. Da jede Ideologie eine empirisch gewonnene Theorie und jede Utopie einen Partialwert absolut setzt, ist keine mehr ideell zu überhöhen, weswegen sie untereinander zutiefst friedensunfähig und unversöhnlich sind. Sie müssen sich aus Gründen der Aufrechterhaltung des jeweils eigenen Absolutheitsanspruches gegenseitig bis aufs Messer bekämpfen, und wenn dabei die Welt zugrunde geht!

Gerne wird eine Ideologie statt in einer empirischen Theorie in einer genauso willkürlich fixierten Utopie verankert. Untereinander bleiben alle Ideologien gleich „wahr“, nämlich gleich falsch. Ihr Irrtum liegt nicht in einer moralischen Betroffenheit oder der ursprünglichen Hypothese, sondern in deren Absolutsetzung. Naturwissenschaftlich ist letztlich keine Ideologie, schon wegen ihres nach Poppers „kritischem Rationalismus“ unzulässigen Absolutheitsanspruches, doch auch wegen der schon durch die anderen, feindlichen Ideologien besorgten Falsifizierung.

Dem ideologischen Vorurteil werden alle widersprechenden Realitäten geopfert. Die völlig willkürlichen Richtungen, die Reduktionsneurosen erhalten, entspringen den höchstpersönlichen Traumata ihrer Träger, ihre individuellen Verschiebungs- und Kompensierungsstrategien und damit letztlich ihren unterschiedlichen Ressentiments. Erst kommt das generalisierte Vorurteil, die dazupassenden empirischen Befunde werden dann gesucht und prompt gefunden. Stets verhalten sich die empirischen Belege passiv gegenüber ihren ideologischen Inanspruchnahmen. Jede reduktionsneurotische Aussage erklärt die anderen Ansätze bloß zu einer sekundären Funktion der eigenen fixen Idee. Mühelos wird ihre Gültigkeit anhand der verabsolutierten Theorie „bewiesen“, und jedem Reduktionismus gelingt dieser Scheinbeweis, lassen sich doch sämtliche, gegen sie sprechende Gesichtspunkte relativieren und unter die jeweils absolut gesetzte Theorie subsumieren.

Wer sich also sicher und gründlich irren will, gehe den Weg einer Ideologie, und sei es einer selbst erfundenen. Er denke eindimensional, reduziere alle Methoden auf ein einziges Rezept und halte sich selber für den Mittelpunkt der Welt oder gleich des Universums. Er werde zum Propheten seiner eigenen Ersatzreligion.

Weiterführende Literatur:

Wolfgang CASPART: Handbuch des praktischen Idealismus. Universitas Verlag, München 1987.

Wolfgang CASPART: Idealistische Sozialphilosophie. Ihre Ansätze, Kritiken und Folgerungen. Universitas Verlag, München 1991.

Wolfgang CASPART: Psychologie und Menschenrechte: Ideologiebildung als induzierte, noogene Reduktionsneurose. In: Erwin Riefler (Herausgeber): Popper und die Menschenrechte. Peter Lang Verlag, Frankfurt a.M. 2007, S.29-39

Lauren J. Chapman & J.P. Chapman (1967): Genesis of popular but er­roneous psychodiagnostic observations. Journal of Abnor­mal Psychology, 71, S 193-204.

Baruch Fischhoff (1977): Hindsight is not foresight: the effect of out­come knowledge on judgment under uncertainty. Journal of Experimental Psychology, 3, S 552-564.

Daniel Kahneman & Amos Tversky (1972): Subjective probability: A judgment of representiveness. Cognitive Psychology, 3, S 430-454.

Daniel Kahneman & Amos Tversky (1973): On the psychology of predic­tion. Psychological Review, 80, S 237-251.

Daniel Kahneman, Paul Slovic & Amos Tversky (1982): Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Cambridge, Cambridge University Press.

Jenoe KURUCZ: Ideologie, Betrug und naturwissenschaftliche Erkenntnis. Saarländische Beiträge zur Soziologie 6, Saarbrücken 1986.

Karl MANNHEIM: Ideologie und Utopie. 3. vermehrte Auflage. Verlag Schultz-Bulmke, Frankfurt a.M. 1952.

Sir Karl Raimund Popper: Logik der Forschung. Zuerst 1934. 11 Auflage, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2005.

Max SCHELER: Das Ressentiment im Aufbau der Moral. Herausgegeben von Manfred S(ervatius) FRINGS. Klostermann Verlag, Frankfurt a.M. 1978.

Heinz Robert SCHLETTE: Philosophie-Theologie-Ideologie. Erläuterung der Differenzen. Bachem Verlag, Köln 1968.

Amos Tversky & Daniel Kahneman (1974): Availability: a heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 5, S 207-232.

P.C. Wason (1960): On the failure to eliminate hypotheses in a conceptual task. Quarterly Journal of Experimental Psycho­logy, 12, S 129-140.

(Fakten 3/2013, Seebarn 2013, S. 18-19)

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  1. Okt. 2015
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