Welt der Krisen

Was hat sich eigentlich geändert in dieser Welt der großen Krisen?

Von Klaus Döhl

Claus Döhl
Klaus Döhl

Strategische Kurzsichtigkeit hat ihren Preis

Die sogenannte Flüchtlingskrise dominiert nicht nur die Nachrichten, sondern wühlt vor allem die Menschen auf. Warum kommt diese Krise eigentlich gerade jetzt und dann in dieser Wucht?

Diese Flüchtlingskrise hat ihren auf den ersten Blick erkennbaren Hauptgrund darin, daß der Nahe und Mittlere Osten, also die Region zwischen der südöstlichen Türkei (Kurdistan) und Afghanistan weitestgehend im Chaos versinkt (mit Ausnahme der brutalsten autokratischen Staaten wie Saudi-Arabien und Iran), die Menschen dort keine Lebensperspektive mehr sehen und staatliche Ordnung kaum vorhanden ist, von rechtsstaatlicher Ordnung ganz zu schweigen. Was ansonsten in der Welle der “refugees” mitschwimmt, hat – bei Anwendung des geltenden Rechts – kaum eine Chance auf Asylgewährung oder sonstigem Aufenthaltsrecht, weshalb an dieser Stelle davon auch keine Rede ist.

Ob der verheerenden Umstände in den Heimatländern der tatsächlichen Flüchtinge ist es kein Wunder, daß die Verzweifelten nach einer Alternative für sich selbst und ihre Familien suchen. „Nichts wie weg“ – das Motto scheint die Flüchtlinge aus diesen Regionen zu einen, oder um es mit einem Zitat aus den Bremer Stadtmusikanten zu sagen: “… etwas Besseres als den Tod findest Du überall.” Und wer könnte das nicht sofort nachvollziehen. Daß diese verängstigten, gedemütigten und in ihrer schieren Existenz gefährdeten Menschen natürlich sofort der Einladung der Bundeskanzlerin folgen, ist völlig nachvollziehbar und verständlich. Das ist jedoch ein anderes Thema und im Zusammenhang mit dem Versuch, Gründe für die krisenhafte Zuspitzung der Situation, die sich seit Längerem abzeichnete, zu suchen, von untergeordneter Bedeutung. Vielwichtiger wird es sein, tatsächlich die Ursachen dieses Massenphänomens zu bekämpfen. Dazu muß man allerdings die Ursachen erst einmal versuchen herauszufinden.

USA verantwortlich?

Wie kommt es, daß eine ganze Region, die sich schon seit langem nicht durch eine besondere Stabilität auszeichnet, plötzlich innerhalb kürzester Zeit vollständig im Chaos versinkt? Einige Beobachter geben den Amerikanern die Schuld, weil sie durch den Krieg im Irak einen beträchtlichen Flurschaden bewirkt hätten. Das kann man so sehen, aber erst andersherum wird erst ein Schuh daraus.

Den Amerikanern, man kann auch sagen “dem Westen” ist allenfalls deshab ein Vorwurf zu machen, weil sie sich militärisch zu früh aus dieser Region zurückgezogen haben und nicht so lange dort geblieben sind, bis daß belastbare staatliche Strukturen in der Lage sind, den Menschen Vertrauen in die eigene Zukunft zu geben. Ein “arabischer Frühling” mag zwar auf den ersten Blick sympathisch erscheinen, als politisches Konzept eignet er sich jedoch eindeutig nicht. Schließt man sich dieser Argumentation an, dann ist US-Präsident Obama der Hauptschuldige an der derzeitigen Situation, weil der von ihm befohlene Rückzug der amerikanischen Streitkräfte zu früh und zu überstürzt kam.

Doch diese auf den jetzigen Präsidenten Obama zielende Argumentation ist nur oberflächlich richtig. Jeder andere US-Präsident hätte wahrscheinlich – im Angesicht der Unpopularität des Irak-Einsatzes unter der eigenen Bevölkerung – ähnlich gehandelt.

Unbemerkte Revolution in der Energieversorgung

In der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, jedenfalls strategisch nicht richtig eingeordnet, hatte sich jedoch ein bedeutender Wandel in der realen Welt vollzogen, vor allem in der Welt jenseits des Atlantiks. Amerika, besser gesagt die Vereinigten Staaten von Amerika, hat sich in den letzten Jahren Stück für Stück aus der jahrzehntelangen Abhängigkeit von auswärtigen Energieeinfuhren befreit. In der Folge des 11.September wurde in den Vereinigten Staaten die gefahrbringende Abhängigkeit von lebenswichtigen Öleinfuhren aus einer der instabilsten Regionen der Welt erkannt.

Durch verbesserte Fördermethoden (u. a. auch Fracking) sind die USA kurz davor, vom einstigen größten Nachfrager nach Energie auf dem Weltmarkt zum Netto-Exporteur von Energierohstoffen zu werden. Die USA können mehr Energie ausführen, als sie importieren! Was vor einem Jahrzehnt noch völlig unvorstellbar war, drückt nun die Energiepreise auf der ganzen Welt. An der Tankstelle kann man sich darüber freuen, aber das Ganze hat natürlich auch seine geostrategischen Konsequenzen.

Der niedrige Ölpreis hat staregische Konsequenzen

Früher konnte man sich im politischen Salon und/oder auf der Straße “betroffen” darüber zeigen, daß die Amerikaner alles tun würden – ja sogar Kriege führen – um den eigenen, unstillbaren Hunger nach billiger Energie zu befriedigen. Diese Aufregung war richtig und falsch zugleich. Richtig, weil mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthalten war, falsch, weil damit scheinheilig übertüncht wurde, daß auch und gerade Europa von der robusten Haltung der Amerikaner profitierte, wahrscheinlich sogar mehr als diese selbst.

Irgendwann haben sich die Wege der Europäer (vor allem der Deutschen) und der Amerikaner dann allerdings getrennt. Während jenseits des Atlantiks im Gefolge des 11. September strategisches Denken einsetzte und somit nach Möglichkeiten gesucht wurde, die Abhängigkeit von Lieferungen aus der vermeintlich unsichersten Region der Welt abzubauen ohne den eigenen Wohlstand zu gefährden, hat man sich in Europa noch weitergehender in fatale Abhängigkeiten begeben, in unverantwortlicher Art und Weise die Realitäten verdrängt und die sich abzeichnenden Tatsachen schlicht und ergreifend nicht zur Kenntnis genommen.

Gerade in Deutschland wurde (und wird) geradezu die Quadratur des Kreises erprobt. In einem der wind- und sonnenärmsten Länder der Welt wird versucht, eine nirgendwo erprobte Energiewende zu bewerkstelligen und dabei gleichzeitig aus Kern- und Kohleverstromung auszusteigen. Anderen Methoden der Energiegewinnung (noch einmal sei hier das Beispiel des Fracking, das übrigens in Deutschland erfunden wurde, genannt) wird zudem bewußt die kalte Schulter gezeigt.

Da Wind- und Sonnenenergie bis auf weiteres nicht grundlastfähig (konstant ausreichend verfügbar) werden, bleibt damit nur eine weiter sich verstärkende Abhängigkeit von Öl und Gas. Das Öl wird hauptsächlich aus dem Nahen Osten, das Gas aus Rußland bezogen. Doch diese Art der Versorgung macht Europa/Deutschland zunehmend erpreßbarer. Die Ukraine läßt grüßen. Solange die Amerikaner die Sicherung des Öl-Nachschubs aus dem Nahen Osten schon aus Eigeninteresse besonders Ernst nahmen, segelten die Europäer und besonders die Deutschen geräuschlos im Windschatten des großen Bruders, konnten sich gar aus der Besucherloge über das amerikanische Hegemoniestreben echauffieren. Doch diese Komfortzone besteht nun nicht mehr.

Europa ohne strategischen Weitblick

Bei allem Getue der moralischen Überheblichkeit ist den Europäern, gerade auch den Deutschen, der strategische Weitblick abhandengekommen, wenn er denn je vorhanden gewesen sein sollte. Wenn die Vereinigten Staaten ihre Abhängigkeit von auswärtiger Energiezufuhr mindern, führt dies unweigerlich dazu, daß diese auch an der Sicherung der fernen und unsicheren Ölquellen und ihrer Transportrouten ein abnehmendes Eigeninteresse haben. Wie sollte ein amerikanischer Präsident vor seinen Bürgern verantworten können Kriege zu führen, eigene Soldaten zu opfern und hunderte von Steuermilliarden zu verballern, wenn damit nicht auch ein nachprüfbarer Nutzen des eigenen Landes verbunden wäre?

Entwicklung verschlafen

Obwohl diese Entwicklung seit vielen Jahren absehbar war, hat die europäische, besonders die deutsche Politik in diesem Zusammenhang völlig versagt. Wurde diese Entwicklung nur versehentlich übersehen? Das ist eigentlich kaum vorstellbar.

Es ist nicht erinnerlich, daß eine vernünftige strategische Debatte in diesem Land stattgefunden hat über die Konsequenzen aus einerseits dem nachlassenden strategischen Interesse der USA am Nahen und Mittleren Osten und andererseits den sich daraus ergebenden Konsequenzen für Europa. Wer existentiell abhängig ist von den Rohstoffen aus anderen Regionen der Welt, muß sich darüber Gedanken machen, wie er deren Bezug sichern will. Die betreffenden Regionen der Welt müssen für einen existentiell Abhängigen berechenbar gehalten werden und die Transportwege gilt es robust zu sichern. Kurz gesagt: Notfalls muß man sich dann auch einmal die Hände schmutzig machen, zumindest muß man glaubhaft nach außen demonstrieren, daß man dazu im äußersten Fall auch bereit und in der Lage wäre.

In einem anderen Zusammenhang kam übrigens eine ähnliche Diskussion in Gang. Vor ein paar Jahren gab es das Projekt “Desertec”. Namhafte deutsche und europäische Konzerne wollten in der Sahara gigantische Solaranlagen bauen, um damit die europäische Energieversorgung zu sichern. Nach und nach haben sich die Größen der Branche (etwa Bosch und Siemens) aus dem Projekt verabschiedet. Derzeit ist der Fortgang des Projekts völlig ungewiß. Ein Grund dafür war, daß solche Mega-Anlagen, um eine sichere Perspektive für die Energieversorgung zu bieten, auch eines robusten militärischen Schutzes bedurft hätten, den man sich schlechterdings nicht vorstellen konnte.

Daß die amerikanische Energie-Autarkie nun etwas Ähnliches verlangt, war und ist der europäischen/deutschen Politik bis heute überhaupt nicht bewußt geworden, oder die Erkenntnis wird verdrängt. Jedenfalls ist eine Debatte über diese Thema nicht wahrnehmbar. Schlimmer noch: Im Taumel über die “Friedensdividende” nach dem vorgeblichen Ende des Kalten Krieges wurde in Deutschland gar die Wehrpflicht abgeschafft und der Verteidigungshaushalt um 11% gekürzt (seit 1999). Zum Vergleich: In Rußland wurde er im gleichen Zeitraum um 173 % erhöht, also nahezu verdreifacht und sogar in Saudi-Arabien um 81,5% erhöht.

Vielen Beobachtern der Lage im Nahen bzw. Mittleren Osten (kommt immer darauf an, wie weit man von dieser unruhigen Region entfernt ist) werden die Konsequenzen der neu gewonnenen amerikanischen Unabhängigkeit – wenn überhaupt – erst nach und nach bewußt. Das nachlassende Interesse der USA an der Region hat zu einem Machtvakuum geführt. Die Westeuropäer sind nicht bereit (Deutschland) oder alleine nicht in der Lage (Groß-Britannien, Frankreich) dieses zu füllen. Da ein Vakuum jedoch nie lange Bestand hat, füllen es nun die Russen (Syrien) oder der “Islamische Staat”.

Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist der derzeit nicht abreißende Flüchlingsstrom, andere Konsequenzen haben durchaus das Potential, noch wesentlich schmerzhafter zu werden (wie die Pariser Attentate zeigen. (Siehe auch Klaus Döhl auf: https://www.conservo.blog/2015/11/14/der-krieg-ist-mitten-unter-uns/)

www.conservo.wordpress.com

14.11.2015

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