STOIZISMUS ODER RESIGNATION

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Von Wolfgang Caspart

Immer wenn der brave Bürger zur demokratischen Wahl seiner ihn beherrschenden und manipulierenden Oligarchie gerufen wird (Michels 1911), muss er sich fragen, was er von der Politik überhaupt zu halten hat. Für Immanuel Kant war die Politik angeblich ein „Tollhaus der vergeblichen Leidenschaften“, für Napoleon unser aller „Schicksal“, für Max Weber „das beständige Bohren harter Bretter“ und für die Römer ein „do ut des“ (gibt, damit dir gegeben werde). Der Wiederentdecker der Demokratie, Jean-Jacques Rousseau (1762), meinte, nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder sei das Volke frei; „haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist Nichts.“ Für den Christen ist die irdische Welt überhaupt ein Ort der diabolischen Verwirrung, Verdrehung, Verirrung und Verführung (2. Korintherbrief 4,4), deren einziger Wert in der Vorbereitung und Ausrichtung auf die transzendentale Welt liegt (Augustinus 1982).

DIE BEIDEN MÖGLICHKEITEN

Angesichts der Eitelkeit und schlussendlich Vergeblichkeit alles irdischen Strebens, welches ja nicht auf die Politik alleine beschränkt ist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man legt die Hände in den Schoß und tut gar nicht mehr, oder aber man bemüht sich weiter trotz der Kenntnis, dass der immanente Lohn vergänglich ist und die höchsten Ideale oder Hochziele nie erreicht werden können. Die erste Reaktion wäre die Resignation und die zweite der Stoizismus. Zu Hilfe kommt der Resignation ein Teil der Neurowissenschaft, weil dieser kein Willenszentrum im Gehirn (Singer 2003) und ein generelles Versagen des Willens (Roth 2001) sehen will, während ein anderer Teil den Willen in einer gewaltigen neurophysiologischen Informationsverdichtung erkennt (Kornhuber und Deecke 2007) und dem passiven Sophisma einer wirklich „faulen Vernunft“ grundsätzlicher Verantwortungslosigkeit entgegentritt. Wer resigniert, bewegt nichts mehr und hat es schon aufgegeben, sich seinen Ideale auch nur zu nähern. Allenfalls bleibt noch die zwischen hilfloser Verzweiflung und zynischer Arroganz schwankende Beobachtung, wie sich die menschlichen Ameisen erfolglos abmühen.

Wendet man sich der zweiten Alternative zu, der aktiven, so gilt seit jeher der Idealismus als das indeterministische System der Freiheit. Wo es einen freien Willen gibt, zielt er auf ein Handeln. Das Sittengesetz wiederum ist das Prinzip des Handelns, ohne das auch keine Erkenntnis möglich wäre (Caspart 1991, S. 74). Indem jede Erkenntnis aus dem Handeln und dieses wieder aus dem sittlichen Willen entspringt (Hentig 1982), führt jeder bewusste Idealismus grundsätzlich zu einer Tätigkeit, aus der in weiterer Folge auch ein politisches Engagement erwächst. Bequemer wäre es immerhin, mit der Welle eines oberflächlichen Materialismus zu treiben, sich seinen Teil zu denken und den Totaldeterminismus sich selbst im Kreis drehen zu lassen.

Aus ethischer Verantwortung für seine Mitwelt wendet sich der Idealist auch der Politik zu. Um sich von der Politik das Paradies auf Erden zu erwarten, dazu ist dem Idealisten die Immanenz an sich zu nichtig und das, was er in ihr erkennen kann, zu provisorisch (Popper 1935), unvollständig (Gödel 1931), unscharf (Heisenberg 1927) und relativ (Einstein 1905 und 1916). Für ihn besteht kein Grund, die Oberfläche für das Eigentliche zu halten, sie ist für ihn bestenfalls Abbild und ansonsten Blendwerk oder „Mâyâ“ (Caspart 1991, S. 228 ff). Dennoch fühlt sich der Idealist verantwortlich und handelt entsprechend, auch wenn er sich keinen endzeitlichen Heilserwartungen hingibt. Seine Geringschätzung des materiellen Erfolgs passt somit gut zur Skepsis des Stoikers. Auf die Haltung kommt es an, aber nicht auf den Beifall der Menge. Während der Stoizismus in der Spätantike die selbstverständliche Lebenshaltung weiter Kreise der Gebildeten darstellte und sogar ins Christentum Eingang fand, erfuhr er in der Renaissance als moralisches Grundgerüst der gehobenen Stände einen neuen Aufschwung (Caspart 2005).

STOA

Mit dem Kaisererzieher Seneca (1990) erkennt der Mensch als seine Bestimmung seine Unabhängigkeit vom äußerem Schicksal, gelangt dadurch zu Wissen und Erfahrung, erfährt Besonnenheit im Handeln und wird frei von der Begierde nach niedrigen Genüssen. Ein glückseliges Leben entspringt allein aus der sittlichen Vollkommenheit, die das höchste Gut darstellt. Indem sich der Mensch seiner Vernunft bedient und in Übereinstimmung mit der Natur lebt, kommt er zur sittlichen Vollkommenheit. Da sich unvollkommene Menschen der Vollkommenheit nur nähern können und nicht vollendet weise sind, bleibt immer eine Differenz zwischen den Idealen und dem wirklichen Leben.

Epiktet (1992) unterscheidet zwischen den Dingen, die in unserer Gewalt sind, und solchen, die wir nicht in unserer Gewalt haben. Was man nicht ändern kann, das muss man hinnehmen: „Halte aus und enthalte dich“. Beunruhigend sind nicht die Tatsachen, sondern die Meinungen über Tatsachen. Das Lebensideal des Stoikers besteht somit in einer weitgehenden innere Unabhängigkeit von den Einflüssen der gesellschaftlichen Umwelt.

Für den praktischen Politiker und stoischen Philosophen Kaiser Mark Aurel (2003) bedarf ein öffentliches und aktives Leben der Lösung von äußeren Motiven und Leidenschaften. Die Übereinstimmung mit sich selbst, das Ideal der Stoa schlechthin, gewährt die Freiheit des Geistes gegenüber den äußeren Verhältnissen. Die Gelassenheit gegenüber den äußeren Ereignissen beruht auf der Einordnung in das kosmisch-göttliche Weltgesetz und die Ausrichtung auf die darin waltende Vernunft. Die Unterstellung allen Handelns unter diese göttliche Vernunft ist das Ziel des Gebildeten. Tugend ist Einsicht. Die Bewahrung des inneren Selbst lässt äußere Übel, aber auch äußeres Wohlergehen als belanglos erscheinen. Das in Freiheit anerkannte Schicksal wandelt sich damit selbst zur Freiheit. Welche Rolle dir das Leben auch zuteilt, nimm sie auf dich und spiele sie gut.

GELASSENHEIT ODER FRUSTRATION

Stoiker verlieren die „Bodenhaftung“ nicht und sind vielleicht keine „Himmelstürmer“, schützen sich aber vor Frustrationen und begehen keine ideologischen Verbrechen. Insofern der Mensch mit seinen Sinnen an die Welt angepasst ist, ist auch seine Vernunft Teil einer größeren Vernunft. Menschlich richtig leben, heißt damit ganzheitlich vernünftig leben. Indem der Mensch seine Innerlichkeit gegenüber allen Äußerlichen bewahrt, beugte er sich keinem Geschick und lässt sich durch keine Macht brechen. Realistisch ist allein eine stoische und zugleich idealistische Haltung. Sie lässt uns das irdische Geschick einschließlich der Politik ertragen, belässt allen ihre Freiheit und ermöglicht sittliches Handeln und gelassene Distanz zugleich.

Eschatologische Heilserwartungen an die Politik oder überhaupt an die immanente Welt sind illusionär und garantieren nur Frustrationen. Ein Zuviel an solchen selbstgenerierten Enttäuschungen mag zunächst vielleicht noch Wut erzeugen – schuld sind ja immer die anderen -, diese ist jedoch hilflos und schlägt früher oder später in Resignation um. Ideologien auf der Grundlage generalisierter Theorien und Utopien mit ihren absolutgesetzten Partialwerten begeistern vielleicht noch einfache Gemüter, erzielen aber auf Grund ihrer simplen Vereinfachungen keine Problemlösungen, sondern verschärfen die Schwierigkeiten und erzeugen langfristig Frustration und Resignation. Wie ein echter Naturwissenschafter geht der Stoiker skeptisch an Hypothesen heran, fällt nicht auf den „confirmation bias“ und „illusionäre Korrelationen“ herein (Kahneman et al. 1982), verifiziert in kritischer Rationalität Theorien nur provisorisch und bewahrt somit eine gelassene Distanz. In einer komplexen Umwelt helfen angesichts der „informationellen Unzulänglichkeit des Menschen“ (Steinbuch 1992) keine scheinbar einfachen Universalrezepte. In der Politik wie auch sonst im Leben löst keine Methode alle Probleme.

Gerade in schwierigen Zeiten ist die alte Kardinaltugend „Klugheit“ wieder gefragt. Sie war ursprünglich die höchste der antiken Tugenden und meinte nicht Schlauheit, Sophistik, Rechthaberei, Gerissenheit, Cleverness, Verdrehung oder Smartheit, sondern die Fähigkeit zur reifen Abschätzung und ausgewogenen Urteilsfindung. Zu ihr gehört es, die gesamte Klaviatur der Möglichkeiten zu spielen und nicht immer nur einen Ton anzuschlagen. In der Ablehnung der schrecklichen Vereinfachungen von Ideologien und Utopien drückt sich die Reife, Lebensnähe, Ausgewogenheit und Lösungskompetenz eines idealistischen Stoizismus aus. Erst aufgrund seiner Ausgewogenheit und Mäßigung kann man sich dem ganzheitlichen Ideal nähern, nicht zuletzt in der Politik. Eine aktive und realistische Handlungsalternativ ist also gerettet, wir sind nicht zu Resignation verdammt.

LITERATURNACHWEISE

Aurelius AUGUSTINUS: De civitate Dei (deutsch „Über den Gottesstaat“). Übersetzt von Wilhelm THIMME. 2. Auflage, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1982.
Marcus AURELIUS Antoninus: Ta eis heauton (griech.), Ad se ipsum (lat.), Selbstbetrachtungen (deutsch). Übersetzt aus dem Griechischen von C. F. SCHNEIDER. Magnus-Verlag, Essen 2003.
Wolfgang CASPART: Idealistische Sozialphilosophie. Ihre Ansätze, Kritiken und Folgerungen. Universitas Verlag, München 1991.
Wolfgang CASPART: Stoischer Idealismus – Gleichmut im „Tollhaus der Leidenschaften“. In: Genius 2/2005, Genius Gesellschaft, Wien 2005, S 104-105.
Albert EINSTEIN: Zuerst 1905 bzw. 1916. Über die allgemeine und spezielle Relativitätstheorie. 21. Auflage. Verlag Vieweg, Braunschweig 1969.
EPIKTET: Enchiridion Handbüchlein der Moral. Griechisch – deutsch Übers. u. hrsg. von Kurt Steinmann. Reclam Verlag, Stuttgart 1992.
Kurt GÖDEL: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. Zuerst 1931. In: Werke. Deutsch und Englisch herausgegeben von Solomon FEFERMAN. Oxford University Press, New York 1986.
Werner HEISENBERG: Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. Zuerst 1927 in: Zeitschrift für Physik. 43, S. 172–198. In: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Walter BLUM, Hans-Peter DÜRR und Helmut RECHBERG. 4 Bände, Springer Verlag, Berlin 1984. 5 Bände, Piper Verlag, München 1984.
Hartmut von HENTIG: Erkennen durch Handeln. Versuche über das Verhältnis von Pädagogik und Erziehungswissenschaften. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1982.
Daniel KAHNEMAN, Paul SLOVIC & Amos TVERSKY: Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Cambridge University Press, Cambridge 1982.
Hans Helmut KORNHUBER und Lüder DEECKE: Wille und Gehirn. Edition Sirius, Bielefeld 2007.
Robert MICHELS: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Zuerst 1911. Neudruck der 2. Auflage. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Werner CONZE. Verlag Kröner (Kröners Taschenausgabe 250), Stuttgart 1970.
Sir Karl Raimund POPPER: Logik der Forschung. Zuerst 1935. 8. weiter verbesserte und vermehrte Auflage. Mohr Verlag, Tübingen 1984.
Gerhard ROTH: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001.
Jean-Jaques ROUSSEAU: Du contrat social, ou, principes du droit politique (deutsch „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“). Zuerst 1762. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Philipp RIPPEL. Verlag Reclam, Stuttgart 1998, Drittes Buch, 15. Kapitel.
Lucius Annaeus SENECA: De vita beata (deutsch “Vom glücklichen Leben”). Übers. u. hrsg. von Fritz-Heiner Mutschler. Reclam Verlag, Stuttgart 1990.
Wolf SINGER: Das neue Menschenbild. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2003.
Karl STEINBUCH: Kollektive Dummheit. Streitschrift gegen den Zeitgeist. Herbig Verlag, München 1992.
(Aula 9/2008, S. 38-39)
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