Die Träume einer Europäischen Verteidigungsunion sind bereits geplatzt

(www.conservo.wordpress.com)

Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist *)

Schneller als erwartet oder befürchtet ist der Traum einer Europäischen Verteidigungsunion geplatzt. Der Verfasser hat in seinem Kommentar (siehe https://www.conservo.blog/?s=farwick+europ%C3%A4ische+verteidigungsunion vom 20. November 2017) eine Europäische Verteidigungsunion ohne die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Kanada, Dänemark, Großbritannien und Portugal als „Kopfgeburt“ bezeichnet – ohne Bezug zu der sicherheitspolitischen Realität in Europa. Er hat ein stilles Begräbnis vorhergesagt – mit Blick auf die zahlreichen gescheiterten europäischen Verteidigungsinitiativen.

In der Begründung für diese Initiative hat die deutsche Verteidigungsministerin erklärt, dass die Unzuverlässlichkeit der USA, sich gem. Art. 5 an der Verteidigung der NATO in Europas zu beteiligen, das entscheidende Motiv gewesen sei, dass sich Europa auf eigene Beine stellen müsse.

In Gesprächen mit dem Verfasser haben zivile Wissenschaftler und sicherheitspolitische Experten in den letzten Tagen diese Einschätzung sehr stark in Zweifel gezogen. Die tatsächliche Einstellung der USA gegenüber der NATO reiche realiter bei weitem nicht aus, um getrennt von der NATO eine weitgehend selbstständige europäische Verteidigungsanstrengung zu unternehmen.

Die europäischen Staaten können die USA fester an die NATO binden, wenn sie die USA bei den NATO-Verteidigungslasten um jährlich 20 Prozent entlasten und ihre eigenen Verteidigungsanstrengungen steigern.

Für die Sachkundigen haben der amerikanische Präsident und seine sicherheitspolitische Umgebung hinreichend klar gemacht, dass die USA ohne Zweifel ihre Verpflichtung zum Art. 5 des NATO-Vertrages – also der Landes- und Bündnisverteidigung der NATO – erfüllen würden. Diese Garantie gilt nicht für mögliche selbstständige, militärisch-politische Operationen von europäischen oder asiatischen Bündnispartnern. Die USA sind offenkundig nicht mehr bereit, global als „Weltpolizist“ zu agieren, wenn vitale amerikanische Interessen nicht berührt sind. Eine verständliche amerikanische Position, auch wenn sie für Europa ein Weckruf sein sollte. Sie sind jedoch bereit, ihre „Strategic Assets“ gem. Berlin-plus-Abkommen Europa zur Verfügung zu stellen.

Europa hat es sich seit Jahrzehnten unter dem amerikanischen Schutzschirm bequem gemacht.

Die Forderungen der Amerikaner, die Europäer sollten ihre Verteidigungsausgaben erhöhen, stießen auf taube Ohren. Die Tatsache, dass die USA seit Jahrzehnten 72 Prozent der NATO-Verteidigungsausgaben geschultert haben, wurde als von Gott gegeben akzeptiert.

Diese Zeiten haben sich dramatisch geändert. Europa ist für die USA nicht mehr der sicherheitspolitische „hot spot“, sondern das ist seit Jahren die asiatisch-pazifische Region, in der zwei Drittel der Menschheit – und damit zwei Drittel der globalen Konsumenten – leben.

Darüber hinaus hat sich China zu einem veritablen Konkurrenten in dieser Region emporgearbeitet.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Europäische Sicherheitspolitik?

Zu dieser Thematik hat die Münchner Sicherheitskonferenz eine Studie in Auftrag gegeben.

Dem „Spiegel 48/2017“ ist der Beitrag „Der Nebel des Krieges“ zu verdanken, durch den wesentliche Inhalte der Studie bekannt geworden sind. Der „Spiegel 47/ 2017“ hat sich noch von der Euphorie einiger Europäer anstecken lassen und im Leitartikel „ Schlafende Schöne“ die Initiative als wegweisend euphemisch gelobt. An vorderster „Front“ marschierte die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die diese Initiative quasi als Bewerbungsschreiben für die nächste Legislaturperiode als Verteidigungsministerin genutzt hat. In ihrer bekannten Bescheidenheit wollte sie deutlich machen, dass nur sie dieses Großprojekt der EU aus Deutschland mitgestalten könnte. Oder sogar aus einer Position in der EU?

Mourir pour Tallinn?

Die Studie der Münchner Sicherheitskonferenz kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis hinsichtlich der europäischen militärischen Fähigkeiten, die Ausdruck des europäischen Behauptungs- und Verteidigungswillen sind. Mourir pour Tallinn? Dafür gibt es zur Zeit in Deutschland keine Mehrheiten.

Einige Zitate des Spiegel 48/2017 aus der Studie – eine Woche nach dem Leitartikel „Schlafende Schöne“.

# „ Die europäischen Streitkräfte sind ausgezehrt, ineffizient und auf die neuen Krisen, die den Kontinent bedrohen, nicht eingestellt“….

# „ Dass sich die meisten anderen europäischen Armeen in einem noch schlechteren Zustand (als die deutschen Streitkräfte) befinden, ist nur ein schwacher Trost….

# „ Überdehnt, veraltet und nicht verfügbar….Das signifikante und weitestgehende Kürzen der nationalen Verteidigungshaushalte, hat den Niedergang eindeutig beschleunigt. Die Streitkräfte kämpfen mit zu wenig und veraltetem Gerät und mangelhaft ausgebildeten Personal….

# „ Herausgekommen ist ein Bild, wie es düster kaum sein konnte“…

# „Wir sind fast 500 Millionen Europäer, und unser Schutz und diplomatischen Initiativen, die für die europäischen Sicherheit entscheidend sind, hängen weitgehend von 330 Millionen Amerikanern ab“ sagt Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz: „ Das ist unhaltbar“. (Der Verfasser: Es ist auch kein Naturgesetz, dass 500 Millionen wirtschaftlich starke Europäer sich vor Russland mit max, 140 Millionen sowie mit seiner wirtschaftlichen Schwäche und einer negativen demographischen Entwicklung „fürchten“. Mittel- und langfristig wird die Weltmacht China auch für Europa unangenehmer werden können.)

# „ Europa sei umgeben von einem „Feuerring“, sagt der frühere schwedische Premierminister Carl Bildt“.

# „Die Herausforderungen treffen Europa zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Seit 1995 sind die militärischen Fähigkeiten des Kontinents massiv geschrumpft und viele Waffensysteme veraltet. Der Sparkurs, gekoppelt mit den zahlreichen Auslandseinsätzen, hat die europäischen Streitkräfte geschwächt“…

# „Bisher fordert die NATO, dass mindestens 20 Prozent der Verteidigungsausgaben in Investitionen gesteckt werden. Die Autoren des Münchner Reports glauben, dass dieser Anteil auf bis zu 30 Prozent gesteigert werden sollte“…. (Der Verfasser: In Deutschland liegt der Anteil seit Jahren deutlich unter 20 Prozent)

# „Jetzt gebe es die einmalige Chance, die Grundlagen für eine bessere europäische Sicherheitspolitik zu legen, heißt es in dem Bericht. Wer diese Chance jedoch verstreichen lässt und einfach mehr von dem Alten mache, könnte den derzeitigen Zustand der europäischen Verteidigung für die nächsten Jahrzehnte zementieren“.

Schuld an diesem Zustand haben die politisch Verantwortlichen und die militärischen Führer, die diese unheilvolle Entwicklungen vielleicht erkannt, aber nicht verhindert haben.

Es gab immer wieder warnende Stimmen, die jedoch in der Schublade „Kalter Krieger“ verschwanden.

Wie geht es weiter? „Mit maroden europäischen Armeen?“

# Dieser Bericht sollte nicht in Gremien oder Arbeitsgruppen hinterfragt und „zerlegt“, sondern als Grundlage angenommen werden.

# Die Illusion einer weitgehend selbstständigen Verteidigung Europas muss endlich begraben werden. Wer kann sich im Ernst vorstellen, mit den maroden europäischen Armeen in absehbarer Zeit eine selbstständige europäische Verteidigungsunion mit einer glaubwürdigen Abschreckung aufzubauen? Es sollte kein weiterer Euro in diese Träume investiert werden. Die europäischen Staaten müssen ihre Verteidigungsanstrengungen innerhalb der NATO verstärken. „ NATO first“ muss wieder zur Richtlinie werden.

# Mit den NATO-Partnern Dänemark, Großbritannien, Kanada und Portugal sind frühere Qualitäten wieder zu erreichen, wenn die übrigen europäischen Staaten endlich ihren Verpflichtungen nachkommen.

# Die europäischen NATO-Mitgliedstaaten können und müssen verbindliche Zwischenschritte festlegen, wie und wann sie die zwei Prozent ihres BIP und die 20 Prozent bei Investitionen erreichen.

# NATO und NATO-Mitgliedstaaten dürfen nicht in Panik geraten und durch Schnellschüsse die Zukunft erschweren,

# Die entscheidende Frage muss beantwortet werden: was müssen die NATO-Streitkräfte in 20-30 Jahren leisten können? Es bedarf einer Vision, die die Menschen in den Mitgliedsstaaten fasziniert.

# Welchen Einfluss haben künstliche Intelligenz, Cyber warfare, Information warfare, Roboter, Drohnen etc. auf die dann moderne Kriegsführung?

# In allen Mitgliedstaaten müssen der Behauptungs- und Verteidigungswillen wieder gestärkt werden als Voraussetzung für Moral und Kampfkraft der Soldaten. „Kämpfen wollen und kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ muss wieder zur Grundüberzeugung werden.

# Priorität in allen Anstrengungen müssen Polen und die Baltischen Staaten in ihrer geopolitisch exponierten Lage erfahren. Der „ Stolperdraht“ muss dicker und widerstandsfähiger werden.

# In den NATO – HQs und in den Mitgliedsstaaten müssen Generale/Admirale und Stabsoffiziere in Führungspositionen eingesetzt werden, die noch vage eigene Erfahrungen im „ Joint warfare“ und im „Gefecht der verbundenen Waffen“ haben, Die notwendige Verlagerung zur Landes- und Bündnisverteidigung sowie Heimatschutz setzt einen Paradigmenwechsel voraus: Vom Helfen und Schützen zum Kämpfen, Töten und Gewinnen.

# Diese erforderliche Einstellung und eine angemessene Ausstattung und Bewaffnung muss in Gefechtsübungen im Gelände immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden, um Defizite zu erkennen und zu beheben.

# Es muss wieder „NATO-Übungen“ – wie früher „Wintex“ und „Cimex“ geben – um die Zusammenarbeit zwischen Politik/Administration und Militär auf allen Ebenen zu üben.

# Landes-/Bündnisverteidigung brauchen mehr aktives Personal und mehr Reserven an ausgebildetem Personal. Das schaffen nur Streitkräfte, die eine kluge Balance zwischen Berufs – und Zeitsoldaten sowie gut ausgebildeten Wehrpflichtigen haben.

Die Wiedereinführung der Wehrpflicht im Rahmen einer Allgemeinen Dienstpflicht für junge Frauen und junge Männer würde den deutschen Streitkräften wieder qualifizierten Nachwuchs bescheren sowie die Chance schaffen, die größer werdenden Lücken in den Pflegediensten zu schließen.

Es würde den jungen Menschen wieder die Chance geben, Staat und Gesellschaft, denen sie viel zu verdanken haben, einen Dienst zu erweisen.

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*) Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.

Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.

Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.

In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ;Partnership for Peace´ beteiligt.

Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegenerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.

Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.

Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.

Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.

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www.conservo.wordpress.com   30.11.2017
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