EU- Gipfel 2018: Jedes Land kann machen, was es will – EU-Kommission ratlos

(www.conservo.wordpress.com)

Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist *)

Zwei wichtige Klarstellungen zu Beginn:

# Die EU ist nicht Europa – es sind noch 28 von 40 Staaten. Großbritannien wird im nächsten Jahr ausscheiden. Es fehlen u.a. wichtige Staaten wie die Schweiz und Norwegen. Damit ist der Begriff „Europäische Lösung“ irreführend.

# Für alles, was besprochen wurde, gilt „Freiwilligkeit“

—–

Der dubiose Kompromiss in der Asylpolitik

Nach dem Gipfel bekam man den Eindruck, alle Seiten hätten gewonnen. Es war die Rede von „Durchbruch“ und vom „ historischen Schritt“ und von einer „win-win-situation“. Die Delegationsführer der beteiligten Staaten wedelten vor den Kameras mit dem Abschlussdokument zum Beweis ihres Erfolges.

Es wurden viele Nebelkerzen verschossen.

Die beiden Anstalten des deutschen Staatsfernsehens boten nicht nur der Kanzlerin immer wieder die Gelegenheit, die erzielten „Erfolge“ einem staunenden Publikum darzulegen. Dabei wurden der Kanzlerin keine bohrenden Fragen gestellt, man begnügte sich mit Stichworten, die routiniert abgearbeitet wurden.

Es gab abweichende Bewertungen von professionellen Beobachtern des Gipfel, es fiel sogar das Urteil „Lachnummer“. Dieses Urteil sucht man im Netz vergeblich . Wie auch Bild und Namen der Korrespondentin, deren Statement der Verfasser life in der Tagesschau gesehen und gehört hat. Zufall?Wer das Abschlussdokument studiert hat, kommt zu einem ernüchternden Urteil. Es dominieren Begriffe wie „ Wir streben an“, „Wir wollen“, „Wir werden beraten“ etc. und vor allem „Freiwilligkeit“.

Das Zauberwort „Transitzentren“

Es ist die Rede von Transitzentren – oder „regionalen Anlaufzentren“ – in der EU und in Nordafrika. In Europa kommen nur „Erstankunftsländer“ in Frage. Belgien, Frankreich und Österreich haben dies zur sofortigen Ablehnung genutzt. Der „Schwarze Peter“ landet wieder in Griechenland, Italien und Spanien. Ihnen gilt die Solidarität (!!!) der übrigen 25 Staaten. Reiner Zynismus.

Italien akzeptiert keine Quoten. Als „Beifang“ ist die frühere Quotenregelung für die Aufnahme von „Asylbewerbern“ in EU-Ländern vom Tisch. Ein Resultat des Scheiterns dieses EU-Planes vergangener Jahre.

Die Zentren sollen in Zusammenarbeit von Drittstaaten, der UNO und der Internationalen Migrations-Organisation aufgebaut und betrieben werden. Es sollen „geschlossene“ Einrichtungen sein – ohne Ausgang und vergleichsweise niedrige finanzielle Leistungen, dafür aber mehr Sachleistungen.

Die Vorstellung: Flüchtlinge, die im Mittelmeer gerettet werden, sollen direkt in ein „Transitzentrum“ gebracht werden – in Nordafrika und im Süden Europas. Die Einrichtung eines derartigen Zentrums ist freiwillig. Oh Wunder – bisher hat es keine positive Meldung eines Staates gegeben – weder in Nordafrika noch in Europa – trotz der häufig beschworenen „Solidarität“.

Besonders heikel ist die Lage in Nordafrika:

Die „Asylsuchenden“ sind in der überwiegenden Mehrheit Muslime. In den überwiegend islamischen Staaten Nordafrikas sind dann die Zentren voller Unruhe- und Gewaltpotentiale.

Wer soll die Sicherheit innerhalb der Zentren und gegen „Ausbruchs -“ oder „Befreiungsversuche“ durch Glaubensbrüder sicherstellen? Welches Land oder welche Organisation soll die Überprüfung der Insassen vornehmen? Nach relativ kurzer Zeit soll die Entscheidung fallen, ob der Antragssteller in ein europäisches Land verschickt wird – welches? – oder in sein Herkunftsland abgeschoben werden soll – wenn man es überhaupt kennt.

Die Aufgabe, solche Zentren aufzubauen und auf Dauer zu betreiben, ist eine mehrjährige Mammutaufgabe, die in den entwickelten Ländern Europas nicht zufriedenstellend geklappt hat. Behörden und die Justiz sind noch heute beschäftigt, die Folgen der illegalen Massenintegration nach dem 4.September 2015 zu bewältigen. Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, dass man nicht weiß, wer seitdem unregistriert in Deutschland untergetaucht ist.

Zu dieser EU-Vorstellung kommt ein nationales Problem – besonders in Deutschland. Innenminister Seehofer und die bayerischen Regierung unter Markus Söder wollen zusätzlich sicherstellen, dass „Asylsuchende“, die bereits früher in einem EU-Land registriert worden sind, innerhalb von max. 48 Stunden abgeschoben werden – an drei bayerisch-österreichischen Grenzübergängen. Der Innenminister rechnet mit zwei bis fünf Fällen pro Tag. Warum nur an drei Übergängen? Warum nur an der bayerisch-österreichischen Grenze? Warum nicht auch an der grünen Grenze zu Tschechien? Warum gibt es keine flexible „Schleierfahndung? Wer garantiert, dass es die Behörden schaffen, die Prüfungen in dieser kurzen Zeit abzuschließen? Sieben Tage in der Woche – einschließlich der Wochenenden? Die an der Grenze eingesetzten Beamten haben offensichtlich nicht die Zeit, diese Prüfung zu übernehmen. Sollte dies – überraschenderweise – auch an Wochenenden nicht gelingen, muss der „Asylsuchende“ in ein „normales Auffanglager“ oder in ein „Ankerzentrum“, falls es diese schon gibt, verlegt werden. Wer soll den polizeilich abgesicherten „Shuttleservice“ von der Grenze zu den Aufnahmeeinrichtungen übernehmen und bezahlen?

Laut Abschlussdokument verspricht sich die EU eine „abschreckende Wirkung“ auf potentielle Asylsuchende aus Afrika.

Der Verfasser sieht eher eine „abschreckende Wirkung“ auf Staaten, die Verantwortung für ein derartiges Unternehmen zu übernehmen hätten.

Jetzt sollen Gespräche mit Staaten geführt werden, um sie zu überzeugen, ein oder mehrere „Transitzentren“ einzurichten. Erdogan hat mit der EU vorgemacht, dass die Überzeugung der Staaten teuer erkauft werden muss.

Wie auch immer: Der Aufbau solcher Zentren mit annehmbarer Logistik wird Jahre dauern. Bis dahin geht das Versagen der EU-Kommission, der nationalen Regierungen und ihrer verantwortlichen Behörden sowie ihrer überforderten Justiz weiter.

In der EU ist noch umstritten, ob Prüfungsergebnisse der Verfahren in diesen Zentren den Anspruch auf Asyl in der EU „faktisch unterlaufen“.

Allerdings: der gesamte Prozess muss unter Wahrung der internationalen Menschenrechte ablaufen – auch in Libyen, wo in bestehenden Lagern menschenunwürdige Verhältnisse herrschen.

Das nächste Zauberwort „Frontex“( Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache)

Die Außengrenzen der Europäischen Union sollen durch mehr Personal und eine bessere Ausstattung von Frontex gesichert werden. Für dieses Vorhaben gibt es keine abgestimmten Zeitvorstellungen.

Das gilt auch für die Vorstellung, Flugzeuge von Frontex könnten die Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern aus 28 EU-Staaten übernehmen.

Eine abstruse Vorstellung.

Die Problematik der Sekundärmigration

Darunter versteht man die Binnenmigration zwischen den Ländern der Europäischen Union.

Darin sieht man eine „Gefährdung des europäischen Asylsystems“.

„ Die EU hat die Zusage erteilt, notwendige und administrative Vorkehrungen zu schaffen, um diese Binnenmigration in der EU zu regeln.“ Wieder ohne Zeitangaben.

Es gibt Probleme, die mit der „Freizügigkeit“ innerhalb Europas zusammenhängen.

So geht es z.B. darum, in welcher Höhe Kindergeld gezahlt wird – nach den Zahlungen im Herkunftsland oder nach den Zahlungen in dem Land, in dem ein Europäer Arbeit gefunden hat, seine Kinder jedoch im Herkunftsland verbleiben. Es geht nicht um „peanuts“, sondern in der Summe um Milliarden – z.B. für Deutschland.

Jetzt bedarf es wieder bilateraler Abkommen, die gem. Kanzlerin „viel Zeit brauchen“ – und weiteres Geld kosten.

Die stundenlangen Diskussionen der Asylpolitik haben den EU-Gipfel Juni 2018 dominiert. Der Schlussstrich unter diesen Teil der Diskussionen zeigt eine Sammlung von Absichtserklärungen, vagen Versprechungen und Täuschungsmanövern. Von diesen ist – auch wegen der fehlenden Zeitlinien – kein einziger Punkt einklagbar weder politisch noch juristisch.

Nach dem Gipfel im Juni ist vor dem Gipfel im Dezember 2018.

Bis dahin wird sich der dichte Nebel, der massiv verschossen worden ist, hoffentlich teilweise gehoben haben und der Kanzlerin neue Kleider zeigen.

In Deutschland wird das Trauerspiel der Regierung und Teilen der Opposition weitergehen.

Die Fronten sind verhärtet – in Bayern, aber auch in den übrigen Bundesstaaten gehen tiefe Risse durch die Gesellschaft und die Parteien.

Ein neues Schlüsselwort in der Diskussion zwischen CDU und CSU: „wirkungsgleich“. Innenminister Seehofer hat den Begriff geprägt: Von den Ergebnissen in Brüssel verlangt er, sie müssten „wirkungsgleich“ zu seinem „Masterplan“ sein. Für Merkel waren die Ergebnisse sogar „mehr als wirkungsgleich“. Zum Glück kann man den Begriff nach allen Seiten dehnen, man kann ihn jedoch nicht definieren und nicht messen. Er erleichtert somit die politische Diskussion.

Bricht endlich etwas auseinander, was nicht mehr zusammengehört?

Vertagte Reformen

Für die Diskussion der Reformvorschläge, die den EU-Gipfel bestimmen sollten, blieben nur zwei Stunden übrig.

Das ist vielleicht die beste Nachricht vom Gipfel. Die weitreichenden Reformpläne des französischen Präsidenten Macron hätten besonders für Deutschland gefährlich werden können – weitere Stärkung des Molochs Brüssel, die Ausweitung des ESM (Europäischer Stabilisierungsmechanismus), die Einführung eines gesonderten Budgets für die Eurozone und die Einführung eines Finanzministers der EU oder der Eurozone.

Präsident Macron kann seiner Biographie nicht entgehen: Er ist in einem zentralistischen Frankreich aufgewachsen, das keinen Föderalismus kennt. Die politische Musik wird nur in Paris gespielt.

Der Erfolg Europas ist jedoch auf seine politische, wirtschaftliche, kulturelle und militärische Vielfalt zurückzuführen.

Macron setzt auf die finanziellen Beiträge Deutschlands für die Realisierung seiner Träume.

Der Verfasser hofft, dass die Staaten, die für ein „Europa der Vaterländer“ eintreten, die Zeit bis zum Dezember 2018 zur Werbung für ihre Vision nutzen – mit gleichgesinnten Staaten in Mittel-/Osteuropa.

Die Sonne in Europa geht im Osten auf.

Fazit des EU-Gipfels im Juni 2018

Es gibt nur Verlierer:

# Die Glaubwürdigkeit der deutschen und EU-Politik ist weiter beschädigt worden.

# Das Ansehen Deutschlands und sein Einfluss in Europa und in der Welt haben weiter gelitten – zusätzlich zu den langwierigen Verhandlungen zur Regierungsbildung und den „Dieselskandalen“

# 78 % der deutschen Bürger sind mit der Arbeit der Regierung weniger oder gar nicht zufrieden.

# Die Hoffnung auf ein „vereintes“ Europa hat einen weiteren Dämpfer erhalten.

# In der jetzigen Verfassung wird Europa in absehbarer Zeit kein „Global Player“, der in Augenhöhe mit China, Russland und den USA verhandeln könnte.

# Persönlicher Machterhalt hat Vorrang vor dringenden Investitionen in Schlüsseltechnologien, die über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands entscheiden.

# Die innerdeutschen Diskussionen zeigen, dass sich die Parteienlandschaft in Deutschland bereits verändert. Die „Altparteien“ verlieren weiter an Attraktivität. Die Politik und Politikerverdrossenheit nehmen zu.

# Merkel und Seehofer sind Auslaufmodelle.

# In der Regierungskoalition sind gegenseitiges Vertrauen und gegenseitiger Respekt schwer beschädigt worden.

# Verlierer sind die deutschen Patrioten, die stolz auf ihr Vaterland sein wollen.

Der Spiegel 27/2018 kommt in seinem ausführlichen Beitrag zu der Entwicklung Deutschlands zu dem Schluss: „ Es war einmal ein starkes Land“. Deutschland.

**********
*) Brig.General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.
Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.
Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.
In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt.
Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegenerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.
Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.
Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.
Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.
*******
www.conservo.wordpress.com      7.7.2018
Über conservo 7864 Artikel
Conservo-Redaktion