Manfred und Marek – Aspekte der schwierigen Nachbarschaft von Deutschen und Polen

(www.conservo.wordpress.com)

Von Helmut Roewer

Teil 2: Krieg der Verlierer

Der deutsch-polnische Krieg begann am 1. September 1939, der europäische Krieg zwei Tage danach, am 3. September 1939, und der Zweite Weltkrieg 1941, also knapp zwei Jahre später.

Hoch zu Ross – polnische Illusionen und ernüchternde Wirklichkeit

Der militärische Teil des deutsch-polnischen Krieges dauerte nicht viel länger als drei Wochen. In diesen zerplatzten die britisch-französisch-polnischen Propagandablasen, eine nach der andern:

  • keine deutschen Proletarier-Massen riefen zum Generalstreik gegen Hitlers Mobilmachung auf – richtig war vielmehr, dass sich Kriegsbegeisterung nicht zeigen mochte. Das deutsche Volk registrierte den Kriegsbeginn mit eisigem Schweigen (wer’s nachvollziehen möchte, lese die Meldungen aus dem Reich, die der SD-Inland Woche für Woche für einen winzigen Leserkreis im Staats- und Parteiapparat produzierte). Da mochte der eigens einberufene Reichstag seinem Führer noch so applaudieren, wie er wollte, kein Funke sprang über.
  • kein deutscher Hund wurde mit blankem Säbel binnen Tagesfrist hunderte Kilometer bis zur Havel zurückgejagt – richtig ist vielmehr, dass sich deutsche Kampfpanzer von polnischen Ulanen-Lanzen als unverwundbar erwiesen. Tausende tapferer polnischer Kavalleristen, denen man das Gegenteil versichert hatte, lagen Anfang September 1939, von deutschen Maschinengewehren buchstäblich niedergemäht, tot auf der Rominter Heide.
  • kein deutscher Militärapparat brach unter den gewaltigen See-, Land- und Luftschlägen der verbündeten Schutz- und Garantiemächte Frankreich und Großbritannien zusammen – richtig war lediglich, dass beide – Frankreich allerdings nur nach heftigem britischen Druck – dem Deutschen Reich am 3. September 1939 den Krieg erklärten. So hatte es die Kriegspartei innerhalb der britischen Konservativen seit Monaten geplant. So war es unter maßgeblicher Beteiligung von Winston Churchill ausgeführt worden. Weiter geschah jedoch nichts. Ein paar britische Langstreckenbomber warfen nachts viele Propagandaflugblätter und einige Sprengbomben über dem westlichen Reichsgebiet ab, und die französische Armee rückte in die Verteidigungsanlagen der Maginot-Linie ein, wo sie die Folgemonate tatenlos zubrachte.

Statt polnischer Luftschlösser lernte die Welt den Blitzkrieg kennen. Er hieß nicht von vornherein so, sondern erst nach dem Polenfeldzug. Noch etwas später ging der Begriff in die anglo-amerikanische militärische Sprachwelt ein. Der Blitzkrieg, das war die Kombination von gepanzerten Großverbänden mit direkter Luftunterstützung in einem offensiven Bewegungskrieg. Seine Erfolgs-Strategie war, den Feind zu stellen, mit geballter Feuerkraft zu durchbrechen, in die Tiefe seines Raums vorzustoßen, um beizudrehen, den Gegner einzukesseln und zu vernichten. Letzteres war dann die Aufgabe der nachgezogenen nichtgepanzerten Verbände, während erstere zum nächsten Schlag ausholten.

Gegen diese Art der Kriegführung wehrten sich die Polen tapfer, aber chancenlos. Ihr Offizierskorps dachte noch in den Kriegsannahmen des 19. Jahrhunderts. Seine Kriegserfahrungen stützten sich auf Kampf gegen die undisziplinierten Horden der Roten Armee in den frühen 1920-er Jahren. Die Wehrmacht war von anderem Kaliber.

Leere Versprechungen – die polnischen Verbündeten gehen ihre eigenen Wege

Wie der Krieg gegen die Deutschen ausgehen würde, konnte spätestens 14 Tage nach Kriegsbeginn nicht mehr fraglich sein. Die Reaktionen in den Hauptstädten Europas und Nordamerikas waren allerdings höchst unterschiedlich:

* Aus Warschau nahmen die Hilfeersuchen den Ton der Verzweiflung an. Die polnische Regierung begann, ihre Flucht vorzubereiten.

* In Paris fühlte man sich in der kurz vor dem Krieg vorgenommenen negativen Einschätzung der Polen bestätigt. Man hatte das Militärmündel vergeblich davon abzuhalten gesucht, mit dem Deutschen Reich Streit anzufangen. Auch wirkte der Ärger noch nach, dass sich die Polen, ohne mit der Wimper zu zucken, an der Seite Deutschlands bei der Zerstörung des anderen französischen Mündels, der Tschechoslowakei, beteiligt hatten. Zudem war es der französischen Führung sehr wohl bewusst, dass weder im Fall der Tschechoslowakei noch im Falle Polens, die eigene Militärdoktrin, das Einbuddeln in der Maginot-Linie, jemanden daran hindern konnte, in Osteuropa Krieg zu führen, vor allem Deutschland nicht.

* In London tickten die Uhren etwas anders. Seit 1934/35 betrieb man erneute Hochrüstung, vor allem bei den Luftstreitkräften. Das 1937 etablierte Ministry of Economic Warfare MEW, das Ministerium für die Wirtschaftskriegführung, hatte nun seinen Betrieb voll aufgenommen. Man war sich dort sicher, Deutschland würde nach wenigen Monaten Krieg erschöpft aufgeben müssen. Der Wegfall Polens würde unangenehm sein, aber er kam nicht überraschend. Eine britische Militärmission hatte in den letzten Vorkriegstagen den künftigen Verbündeten als militärischen Schwächling bezeichnet. Man tröstete sich damit, dass die weitere Last des Landkriegs bei Frankreich und seiner zahlenmäßig überlegenen Armee liegen werde.

* In Washington rieb man sich erfreut, wenn auch heimlich, die Hände. Der ungünstige militärische Gang der Dinge in Polen würde Frankreich und Großbritannien mehr als bislang dazu bringen, in den USA Kriegsmaterial einzukaufen. Solche Geschäfte hatte der US-Kongress der Regierung zwar strikt untersagt, aber diese umging das Verbot mit windelweichen und scheinheiligen Begründungen. Diese wurden schließlich akzeptiert, denn es gilt und galt in den USA: Geschäft ist Geschäft.

* In Moskau hatte der Diktator den Kriegsausbruch mit Befriedigung betrachtet. Die kapitalistischen Mächte, so sein Kalkül, würden sich gegenseitig ruinieren. Wenn denn der Kriegsentschluss des Co-Diktators in Berlin durch die deutsch-sowjetischen Abreden vom August 1939 beflügelt worden waren, umso besser. Doch der rasante Vormarsch der Wehrmacht war nicht das, was Stalin sich gewünscht hatte. Ganz und gar nicht. Vielmehr musste er nun befürchten, dass die Deutschen nach wenigen weiteren Tagen ganz Polen besetzt haben würden. Er traute Hitler zu, dass für diesen das geheime Zusatzabkommen zum Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 nun keinen Pfifferling mehr wert sein würde. Diese Abrede teilte Osteuropa, einschließlich Polens, in zwei Einflusszonen auf, eine deutsche und eine sowjetische. Zum Zusatzabkommen gab es eine Landkarte als Anlage. Auf dieser Karte hatte Stalin eigenhändig mit einem blauen Buntstiftstrich die künftige Grenze gezogen. Beide Außenminister – von Ribbentrop und Molotow – hatten den Strich als Grenzregelung abgezeichnet. Nun war es für Stalin die höchste Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Deshalb marschierte die Rote Armee am 16. September 1939 in Ostpolen ein. Bemerkbaren militärischen Widerstand gab es hiergegen nicht mehr.

(Mit einem Federstrich: Stalins blauer Buntstift auf der Landkarte zum Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 nahm die Teilung Polens vom Herbst 1939 vorweg. Links unten die Unterschrift von Stalin, rechts die von Ribbentrop.)

Der polnische Staat befand sich im Stadium der Selbstauflösung, die Reste der Armee waren in Warschau eingekesselt. Einer deutschen Aufforderung zur Kapitulation folgte die zur Festung erklärte Stadt nicht. Sie wurde daraufhin mit Artillerie beschossen und aus der Luft bombardiert. Der Einmarsch deutscher Truppen erfolgte auf dem Fuße. Soweit sie es vermochten, flohen die Reste der polnischen Armee und die polnische Führung nach Rumänien und von dort in alle Welt.

Da capo – die neuerliche Teilung Polens

Ein selbständiges Polen hatte gerade einmal 20 Jahre Bestand gehabt. Das Land wurde erneut geteilt. Hierbei hielten sich die Deutschen peinlich genau an die Abreden des Hitler-Stalin-Pakts. Gebietsteile des sowjetischen Einflussbereichs, die von der Wehrmacht bereits besetzt worden waren, wie Stadt und Festungsgebiet von Lemberg, wurden an die Rote Armee herausgegeben.

Für Polen begann die Zeit der Fremdherrschaft erneut. Es gilt unter Fachleuten als umstritten, auf welcher Seite der neuen Grenze das schlimmere Regime herrschte. Dieser Teilungszustand fand ein Ende, als die Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen und das Gebiet des ehemaligen Polens bald vollständig besetzt hatte.

Die deutsche Besetzung wäre schon wegen der Kürze ihrer Dauer (1939-44/45) kaum der Erwähnung wert, wenn nicht zwei Ereignisse eingeschlossen wären, an denen kein Geschichtserzähler vorbeikommt. (1) Zum einen handelt es sich um die Errichtung einer umfangreichen deutschen Rüstungsindustrie auf polnischem Boden, (2) zum andern um den Warschauer Aufstand 1944 und seine Liquidierung.

(1) Nach der Besetzung des Landes wurden auf polnischem Boden umfangreiche Industrieanlagen für die deutsche Kriegswirtschaft errichtet. Sie wurden mit Zwangsarbeitern betrieben. Soweit es sich hierbei um Juden handelte, waren diese im gesamten besetzten Europa, einschließlich Deutschlands, gewaltsam zusammengetrieben und mit der Bahn in die Zielorte in Polen deportiert worden. An Ort und Stelle wurden die Arbeitsfähigen in die Arbeitslager überführt, etliche Kinder zur Zwangsadoption ausgesucht und die Arbeitsunfähigen in Vernichtungslager überstellt, wo sie ermordet wurden. Eine erhebliche Zahl der auf diese Weise betroffenen polnischen Juden war nur deswegen von der deutschen Besatzung mit Präzision und einiger Leichtigkeit zu erfassen gewesen, weil es eine bemerkbare Kollaboration mit antisemitisch gesinnten Polen gab. Diesen Umstand heute in Polen zu erwähnen, ist dortzulande unter Strafe gestellt.

(2) Auf Kollaboration beruhte auch der Erfolg der deutschen Besatzung, polnischen Widerstand im Keim ersticken zu können. Die Deutschen konnten ausnutzen, dass es in Polen drei miteinander verfeindete politische bzw. ethnische Hauptrichtungen gab: die polnischen katholischen Nationalisten (weitgehend identisch mit dem polnischen Vorkriegsregime und seinen Anhängern), die polnischen Sozialisten bzw. Kommunisten (identisch mit den vom Vorkriegsregime definierten Staatsfeinden) und die Ukrainer, denen ein deutsches Vorgehen gegen das ehemalige polnische Herrenvolk gelegen kam. Beide polnische Hauptrichtungen hatten ihre Unterstützer im Ausland, die polnischen Kommunisten in Moskau und die polnischen Nationalisten in einer Exilregierung, die in Großbritannien residierte.

Dort in London beschloss man im Sommer 1944, der als unmittelbar bevorstehend vermuteten Besetzung der Hauptstadt Warschau durch die Rote Armee zuvorzukommen und an Ort und Stelle einen Aufstand auszulösen, der die deutsche Besatzung hinwegfegen sollte. Die Aufständischen glaubten, Grund zur Eile zu haben, denn die 1944-er Sommeroffensive der Roten Armee hatte die deutsche Heeresgruppe Mitte buchstäblich ausgelöscht, sodass die russischen Panzerspitzen in den ersten Augusttagen 1944 an einigen Stellen die Weichsel erreichten. Dort allerdings blieben sie, was bei den Aufständischen niemand für möglich gehalten hatte, stehen. So gewannen eilig zusammengekratzte deutsche Sicherungs- und Partisanenbekämpfungsverbände Zeit, sich der Bekämpfung der Aufständischen zu widmen.

Wie sie dies taten, gehört vermutlich zu den brutalsten Einsätzen, die während des Zweiten Weltkriegs unter deutschem Befehl stattfanden. Besonders taten sich in Weißrussland rekrutierte SS-Einheiten hervor, die vor der Roten Armee geflohen waren und nun in einer Weise plünderten, marodierten und mordeten, dass sich die deutsche Führung zur Wahrung der Truppendisziplin gezwungen sah, sie aus dem Verkehr zu ziehen und ihre Anführer hinzurichten.

Um auch dies zu erwähnen: Die Aufständischen ersuchten alle Welt um Hilfe. Es war vergebens. Der britische Premier Winston Churchill, der eine Versorgung der Aufständischen aus der Luft mit Hilfe von Langstreckenbombern der Royal Air Force vorschlug, biss bei Stalin auf Granit. Es hätte nämlich dessen Zustimmung bedurft, um die Maschinen nach dem Lastenabwurf und vor ihrem Rückflug nach Großbritannien auf sowjetischen Feldflughäfen auftanken zu lassen. Indessen: der sowjetische Diktator winkte ab. Das, was im Moment in Warschau passierte, passte in sein Kalkül. Es war dies die Vernichtung der noch am Leben befindlichen polnischen nationalistischen katholischen Führung. Dieses Geschäft besorgten ihm die Deutschen.

So kam der Aufstand zum Erliegen. Die Überlebenden kapitulierten. Sie wurden wider Erwarten nicht als Freischärler an Ort und Stelle erschossen oder aufgehängt, sondern wie reguläre Kriegsgefangene behandelt und abgeführt.

Die sowjetische 1945-er Januar-Offensive brachte dann das endgültige Ende der deutschen Besatzung, aber nicht die Befreiung Polens, wie man heutzutage in manchem deutschen Geschichtsbuch nachlesen kann, sondern nur die Ablösung des einen Besatzers durch den nächsten.

(Folgt Teil 3: Der Spielball der Weltmächte.)

©Helmut Roewer, Februar 2020
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*) Dr. Helmut Roewer wurde nach dem Abitur Panzeroffizier, zuletzt Oberleutnant. Sodann Studium der Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen Rechtsanwalt und Promotion zum Dr.iur. über ein rechtsgeschichtliches Thema. Später Beamter im Sicherheitsbereich des Bundesinnenministeriums in Bonn und Berlin, zuletzt Ministerialrat. Frühjahr 1994 bis Herbst 2000 Präsident einer Verfassungsschutzbehörde. Nach der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand freiberuflicher Schriftsteller und Autor bei conservo. Er lebt und arbeitet in Weimar und Italien.
www.conservo.wordpress.com          25.02.2020
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