Lesen in Zeiten der Ausgangssperre

(www.conservo.wordpress.com)

Von Helmut Roewer *)

Nach einem Telefonat zwischen Trump und Putin beginnt Russland mit der Versendung von medizinischen Hilfsgütern für die Amerikaner. Selbst wenn das nur eine Geste ist, möge man sich erinnern, wenn die Wogen wieder etwas glatter werden. (aus meinem Sudelbuch, 4. April 2020).

Eine Handvoll Rezensionen – querbeet. Und ein wenig Nachdenk-Futter drumherum

Liebe Leser, Sie wissen nicht was Sie in der Isolation lesen sollen? Voila, bitte bedienen Sie sich. Die Auswahl meiner Rezensionen orientiert sich an Büchern, die von Mainstream deutlich abweichen. Das ist leichter gesagt als ausgewählt, denn das Abweichen findet auf einer Skala von Ich-möchte-so-gerne-Mainstream-sein bis Räumt-sie-endlich-ab statt. Zwischen den beiden Eckpunkten liegt ein weites Feld. Wer wollte das bestreiten? Nach so viel Theorie nun zum Lesestoff.

1. Abteilung – das Buchhaus Loschwitz mit der Reihe Exil

Das Dresdener Buchhaus Loschwitz ist seit einigen Jahren im Blick von Leuten, die bemerkt haben, dass auch ihr Lieblings-Teller einen Rand hat, über den man zuweilen hinwegblicken sollte. Ich weiß nicht mehr, wann und warum ich auf diese eher kleine Buchhandlung aufmerksam wurde. Es schleppte mich einer mit in eine Lesung. Der Raum war schmal, man saß auf Tuchfühlung, die Leute nickten sich zu, man kannte sich demnach.

Wie dem auch sei, meine Neugierde war geweckt, weil hier offenbar ein eigenwilliges Publikum ein und aus ging, das von der Breite des Angebots aus dem Kulturprogramm des Buchhauses angesprochen wurde, wobei ich von den Akteuren so gut wie keinen auch nur dem Namen nach kannte. Unbekannt blieben mir auch die Veranstalter, das Buchhändlerpaar Susanne Dagen und Michael Bormann. Das änderte sich durch einen weiteren Zufall. Ein Besucher auf der Durchreise in Weimar brachte mir eine bis dato unbekannte Zeitschrift mit: Tumult.

Exkurs: Periodisch schwere Kost – die Zeitschrift Tumult

In Dresden erscheint alle drei Monate eine Zeitschrift mit dem Titel Tumult. Das erste Exemplar, das mir in die Finger kam, war das Geschenk eines der Mitautoren, Sebastian Hennig. Ich fand die Lesekost gewöhnungsbedürftig. Indessen: Ein nüchterner Beitrag über die offiziellen Zuwanderer-Zahlen und deren Bedeutung für unser Land weckte mein Interesse. Ich erbat und erhielt die Genehmigung, diesen Beitrag zu kopieren und im Freundeskreis weiterzuverbreiten. Im Gegenzug bestellte ich ein Abo. Den Ausschlag hierfür gab, wenn ich mich recht erinnere, der mir subversiv erscheinende Untertitel von Tumult: Vierteljahresschrift für Konsensstörung.

Die Zeitschrift besticht dadurch, dass sie Blicke auf unsere Welt anbietet, die zu tun mir nie in den Sinn gekommen wäre. Ich habe infolgedessen eine spezielle Technik entwickelt, Tumult zu lesen. Ich lese alle Artikel (an), aber nur die bis zum Ende, wenn ich nach den ersten fünf Sätzen weiß, worum es gehen soll. Mit dieser Methode ist nichts über die Qualität der überblätterten Beiträge gesagt, sondern nur, dass ich sie nicht verstehe. Die andern aber – und darauf kommt es an – sind für mich Quell des Weiterdenkens in fremden Bahnen. Hierzu zähle ich Themenstellungen aus dem Feld der Migration, der Religionen, der Gleichheitsutopie, der Intelligenz und deren künstlicher Variante, um nur einige zu nennen. Oder wie wäre es mit diesem hier: Die nutzbringende Verwendung des Nürnberger Parteitagsgeländes zur Errichtung eines deutschen Kriegsmuseums. Eine Utopie? Gewiss.

Den Herausgeber von Tumult lernte dann eines Tages kennen, Frank Böckelmann. Es war ein Sommerabend, wir saßen im Innenhof des Buchhauses Loschwitz. Wir musterten uns ein Weilchen und redeten Belangloses. Dann überraschte er mich mit der Frage: Haben Sie auch schon mal was geschrieben? – Ja, sagte ich vorsichtig, gelegentlich.

Exkurs zwo: Empörung und Radikalisierung

Seit Jahren beobachte ich neugierig Leute, die einen gar merkwürdigen Prozess durchlaufen. Ich nenne diesen Prozess die Radikalisierung. Ausgangspunkt dieses Prozesses ist die Vorstellung, dass man in unserm Land sagen kann, was einem beliebt. Diese Vorstellung ist vollkommen ungefährlich bis zu dem Moment, wo man die Überzeugung gewinnt, dass etwas, an das man bis gestern geglaubt hat, nicht stimmt. Sei es, was es sei – dass die Geliebte treu sei, dass das Pfund Butter 500 Gramm Butter enthalte, dass die Tagesschau Nachrichten sende.

Plötzlich erkennt einer: So ist es gar nicht. Was dann folgt, ist immer das gleiche. Der Entdecker der unangenehmen Wahrheit spricht über die Neuigkeit. Zunächst meint er, die Leute, auf die er einredet, müssten nun irgendetwas tun. Doch das ist nicht der Fall. Mit dieser neuen und unerwarteten Erkenntnis steigt die Empörung. Der Sprecher wandelt sich – die deutsche Sprache hat einen wunderbaren altfränkischen Begriff für diesen Vorgang – vom Empörten zum Empörer.,

Zurück zum Buchhaus Loschwitz. Deren Mitbesitzerin Susanne Dagen kam, durchaus nachvollziehbar, auf den Gedanken, dass es unanständig sei, Bücherstände der Verlage von Antaios und Manuscriptum auf der Frankfurter Buchmesse durch eigens zu diesem Zweck eingeschleustes Antifa-Gesindel zerstören zu lassen. Ihre Empörung fasste sie in einer Erklärung zusammen, die von erstaunlichen vielen Bürgern per Unterschrift für unterstützungswürdig gehalten wurde. Nicht hingegen von den Initiatoren dieser modernen Bücherverbrennung. Wen wundert das.

Wie in einem Lehrstück ließ sich beobachten, was dann kam. Die Denunzierungs-Maschinerie setzte ein. Nicht der empörende Vorgang einer mit öffentlicher Hilfe inszenierten Vandalisierung rückte ins Spektrum der Berichte, sondern die vermeintliche politische Solidarisierung der Empörten mit den Randale-Opfern. Jetzt zuckten die ersten zurück: Ich ein Nazi? Nein, da distanziere ich mich lieber. Ich fragte Dagen nach diesem Effekt bei ihren Kunden. Sie sagte: Es gibt solche und solche. Danach ging sie ihren Weg offenbar unbeirrt weiter. Aufgeblättert. Zugeschlagen – Mit Rechten lesen folgte als Video-Programm, jetzt auch Schriftliches, die Reihe Exil.

Sprich endlich zur Sache – die Reihe Exil im Buchhaus Loschwitz

Soeben sind drei Bände einer neugegründeten Buchreihe erschienen, sie heißt Exil. Der Titel ist eine Provokation, ohne Frage. Er bring zum Ausdruck, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen kann – jedenfalls nicht ohne existenzvernichtende Auswirkungen, wenn man ein Autor ist. Exil, das ist die unmissverständliche Anleihe an die Exil-Literatur der Jahre 1933-45. Deutschland als Nichtort für die eigene Meinung.

Die drei ersten Bände der Reihe Exil stammen von Jörg Bernig (An der Allerweltseck. Essays), Monika Maron (Krumme Gestalten, vom Wind gebissen. Essays aus drei Jahrzehnten) und Uwe Tellkamp (Das Atelier). Es handelt sich um Kleinformate mit jeweils um die 100-150 Druckseiten, verlegt bei Edition Buchhaus Loschwitz, Dresden 2020. Alle drei Bände enthalten ein nützliches Zubehör, nämlich einen Anhang mit der Liste der selbständigen Schriften des jeweiligen Autors. Das Buch von Bernig ist eine Aufsatzsammlung, das von Maron ebenfalls. Nur der Text von Tellkamp ist ein geschlossenes Ganzes und stammt vermutlich aus jüngster Zeit.

Bernigs An der Allerweltsecke enthält vier Texte von unterschiedlicher Machart. Die beiden ersten sind Reisebeschreibungen nach Belgrad und Sarajewo. Sie changieren zwischen persönlichen Erlebnissen und kenntnisreichen detailgenauen Beschreibungen der Orte und der Leute dort. Das ist Reiseliteratur im Stile des ausgehenden 19. Jahrhunderts in seiner schönsten Form. Man sieht vor sich, was geschildert wird. Von anderer Art sind die beiden anderen Aufsätze. Sie haben – meine Interpretation – Mitteleuropa zum Gegenstand, vor Bernigs Augen wiedererweckt, nachdem die Grenzen des Ostblocks verschwunden sind. Nicht jeder wird das einleuchtend finden, aber es ist eine Möglichkeit.

Marons Krumme Gestalten, vom Wind gebissen ist eine Sammlung vieler kleiner Beiträge, die bis in die 1990-er zurückreichen. Die Texte sind kurz, lassen sich einzeln lesen, und sie haben bei mir eine Heiterkeit ausgelöst, von der ich nicht sagen kann, ob dies der Intention der Autorin entsprach. Maron schreibt unwahrscheinlich direkt, distanziert, auch und gerade wenn sie sich selbst schildert. Stets bleibt der Leser auf Abstand und – erstaunlich genug – ich selbst habe nie das Gefühl gehabt, mehr wissen zu wollen, als Maron mir selbst von sich preisgegeben hat – sei es ihre erste Reise nach New York in eine von Kakerlaken bevölkerte Unterkunft, sei es ihr Leben im Haus in der Einöde Pommerns. Ihren Text über die non-verbale Kommunikation mit ihrem Hund Bruno (oder von diesem mit ihr) halte ich für besonders gelungen. Dass es sich hierbei um die Ausführungen anlässlich der mit irgend einem Sprachpreis Geehrten handelt, will ich als Charakteristikum ihrer ironischen Weltsicht wenigstens erwähnt haben.

Der Text von Tellkamp Das Atelier entzieht sich hartnäckig einer zusammenfassenden Beschreibung. Bemerken will ich immerhin, dass er sich um Maler, ihr Schaffen und ihre Weltensicht dreht. Der Leser wird an der Nase herumgeführt, ob er Tellkamps Sicht liest oder die der Maler, die der Autor bei Besuchen an deren Wohnort, in ihren Ateliers und bei Ausstellungen sprechen lässt. Für Tellkamp-Spezialisten, die seit dem Roman Der Turm eine neue Germanisten-Gattung bilden, wird es ein leichtes sein, auch den im Atelier vorkommenden Figuren reale Namen zuzuordnen, sie – wie man in diesen Kreisen sagt – zu entschlüsseln.

Nimmt man einmal an, dass darunter die wohletablierten Maler Neo Rauch und Axel Krause sind, so versteht man die Aufregung, die Mainstream bei Erscheinen des Ateliers ergriffen hat: Der umstrittene Tellkamp leiht dem umstrittenen Rauch und dem umstrittenen Krause seine umstrittene Stimme. Er lässt sie ohne Filter sprechen. Damit begeht er den Frevel der Kontaktschuld. Er-musste-doch-wissen-dass… war das Mildeste, was ich in diesem Zusammenhang las. Nun gut, der Leser wird sich ggf. selbst ein Urteil bilden wollen. Das ist kein leichter Stoff, soviel sei gesagt.

Exkurs drei: Monika Maron

Die Schriftstellerin Monika Maron fiel mir zum ersten Mal auf, als sie Ende der 1980-er Jahre in einer Serie in der Wochenzeitung Die Zeit wechselweise mit dem Chefredakteur Theo Sommer zu Wort kam. Da hatte sie eine gewisse Stufe der Prominenz erklommen. Sie wurde nach einem Buchverbot als DDR-Dissidentin gehandelt. Die Funktion dieser Einstufung wurde mir erst viel später klar. Sie befriedigte westlichen Abenteuer-Journalismus – die DDR als Feuilleton-Event. Was mir seinerzeit auffiel war, dass Maron sich jegliche Form von Anbiederung verbat.

Danach verlor ich sie aus den Augen. Marons Name blieb mir jedoch geläufig, denn es gab in meinem Bekanntenkreis genügend viele, die ihre Bücher lasen. Ich gehörte nicht zu den Lesern. 2018 änderte sich das. Es erschien Munin oder Chaos im Kopf, ein Buch mit einem unschönen Titel. Die Tür zu diesem Buch hatte ein ans Idiotische grenzendes Interview aufgestoßen, in welchem das Feuilleton-Männlein die Autorin zur Aussage zu veranlassen suchte, sie habe mit dem Buch nur einen literarischen Scherz machen wollen. Diese reagierte, ohne laut zu werden, in einer Weise kratzbürstig, dass ich neugierig wurde.

Die Lektüre des angeblichen Scherzes hat sich für mich sehr gelohnt. Es ist in der Tat eine rundum absurde Geschichte, in welcher die Ich-Protagonistin mit einer Krähe spricht und eine offensichtlich schwer verrückte Nachbarin die ganze Straße mit ihrem Gesang vom Balkon aus terrorisiert. Doch das ist nur der äußere Rahmen. Die anderen Figuren, die auftauchen, sind du und ich, Leute, die mit einer extremen Situation fertig werden müssen. Selten sah ich die verlogene Fassade des Gutmenschen so schonungslos portraitiert. Heute frage ich mich, ob dieses Buch die Autorin ins Exil jenseits des Sagbaren verbannt hat. Ich nehme es an.

Exkurs vier: Uwe Tellkamp

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp gehört zu jenen Leuten, die mir soundso oft hätten über den Weg laufen können, aber es nicht taten – so Anfang der Nuller Jahre, als wir beide im Verlagsverzeichnis beim Verlag Faber & Faber auftauchten. Habe ich damals nicht beachtet und, wie ich vermute, er auch nicht. Tellkamp rückte erst in mein Bewusstsein, als ein Freund mir den Roman Der Turm schenkte. Das Buch blieb zunächst liegen. Vermutlich störte mich dessen Verlag – Suhrkamp. Seit meinen Studententagen hatte ich von Suhrkamp nur Bücher auf dem Schreibtisch gehabt, deren Inhalt mir vollkommen abwegig erschien: Die grässliche Frankfurter Schule und ihre radebrechenden Pennäler, die mich abstießen, und dann die schönen Geister im selben Verlagshaus, deren Artikulationsprobleme und Egophobien sich mir nicht erschlossen. In meinem Vorurteil fühlte ich mich bestätigt, als die Kulturschickeria Tellkamps Turm zum Meisterwerk erkor.

Anfang 2018 machte ich in Sachen Tellkamp die Wende – spät, aber immerhin. Nunmehr las ich den nur angelesenen Turm ganz und anderes von ihm zudem. Der Auslöser war ein Auftritt des Schriftstellers in Dresden. Hierüber notierte ich unter dem 18. Februar 2018 in mein Sudelbuch: „Der Schriftsteller Uwe Tellkamp hat sich vergangene Woche Donnerstag auf einer Veranstaltung in DD nach Auffassung von Mainstream schrecklich danebenbenommen, als er über die illegale Einwanderung vom Leder zog. Das muss so überraschend gewesen sein, dass die Diskussionsleiterin und der angebliche Mit-Diskutant Durs Grünbein, ein Hundertfünfzigprozenter, vor Schreck sprachlos waren. Sie machten lediglich durch versteinerte Mienen auf sich aufmerksam. Pünktlich am Tag drauf fiel die Pressemeute über Tellkamp her und auch das Grünbein trat nach.“

Nun gut, so war meine Aufmerksamkeit geweckt, und ich nahm an, dass der Vorwitzige jetzt entweder zu Kreuze kriechen werde, jämmerlich untergehen oder gegen die Konsequenzen des sicher zu erwartenden Rufmords fechten müsse. Er hat sich offenbar für das Kämpfen entschieden. Als ich ihn dann etwas später bei einer Lesung vor Weimarer Bildungsbeflissenen auf kurze Distanz in Schloss Ettersburg betrachten konnte, fiel mir auf, dass er offenbar von seinen überlangen Schachtelsätzen nicht lassen mochte, was bei der Lesung deswegen nicht störte, weil er zu den wenigen Schriftstellern zählt, die eigene Texte wirklich gut lesen können. Es war eine Freude, ihm zuzuhören. Auch behagten mir die Mienen meiner Sitznachbarn. Sie drückten eines aus: Distanz, Distanz, Distanz, denn der unbequeme Text war streckenweise urkomisch und frostig zugleich. Der Vorleser und Ich-Protagonist berichtete über seine Arbeit in einem Wahrheitsministerium. Wo mag das wohl gedruckt werden, ging mir durch den Kopf. Ich mutmaßte so vor mich hin: nicht bei Suhrkamp.

Einen Nachgeschmack erhielt diese Vermutung, als vor einigen Wochen bekannt gemacht wurde, dass das Werk bei Suhrkamp nicht auf dem Programmzettel stehe, weil es noch nicht fertig sei. Es folgte ein Lesungsversuch in Dresden, der Knall auf Fall abgesagt wurde. Dem Veranstalter war plötzlich aufgefallen, dass er sich des Vergehens der Kontaktschuld aussetzte. Also zog er sich winselnd zurück. Ins Gewicht fiel wohl auch, dass die Lesereihe vom Herausgeber der Zeitschrift Tumult (siehe oben) ausging, ausgewiesen durch seine Kritik an der illegalen Zuwanderung und deren Duldung. Weitere Salven verschoss Mainstream, als Tellkamp vor einigen Tagen im Buchhaus Loschwitz dann doch aus dem Manuskript las.

Was vermutlich in jenem Buch stehen wird, kann man in einem Auszug nachlesen, der im jüngsten Heft von Tumult abgedruckt ist. Es ist eine Geschichtenfragment, das die Machthaber der frühen Bundesrepublik portraitiert. Dem Leser präsentiert sich ein Stimmengewirr der Akteure des sich bildenden Weststaats. Einer sagt dem andern etwas über die, denen er irgendwie durch die unsichtbaren Ketten der Macht verbunden ist. Ein Panoptikum der Charaktere. Nichts steht fest, weil jeder jeden etwas anders sieht. Wie das in die Gesamtkomposition eines Romans passt, ist mir noch etwas schleierhaft. Vielleicht erfahre ich es ja, wenn ich das Buch in Händen halte. Was Mainstream dazu sagen wird, kann ich erahnen. Dieselben Leute, die dereinst die Authentizität – so nennt man die Glaubwürdigkeit des Dargebotenen heutzutage – beim Turm priesen, werden empört ausrufen: Was nimmt der sich raus, er kann das als Ostdeutscher doch gar nicht beurteilen. Der soll erst mal in der Demokratie ankommen, bevor er über deren Anfänge polemisiert.

Die Partie Mainstream vs. Tellkamp ist offen. Es liegt an den Nachdenklichen unter den Lesern dieses Landes, dass die Rechnung der Selbstgerechten nicht aufgeht. An mir und meinen Freunden soll es nicht liegen. Für uns gilt: Worauf wir neugierig sind, bestimmen wir immer noch selbst. Und was wir lesen auch.

2. Abteilung – der Antaios Verlag und die Serie Kaplaken

Auf Antaios wurde ich vor wenigen Jahren aufmerksam gemacht, als der Versandhändler Amazon beschloss, den Verlag Antaios in Teilen aus dem Sortiment zu entfernen. Meine Dankbarkeit für die Fürsorge des Amazon-Eigners Jeff Bezos hielt sich in Grenzen. Immerhin hatte er meine Neugierde geweckt – für eine Zensurmethode und für einen kleinen Verlag und sein Sortiment. Amazons Quarantäne traf zum Beispiel den werdenden Bestseller des kurz zuvor verstorbenen Peter Sieferle mit dem Titel Finis Germania. Das Büchlein war bei Antaios in der Reihe Kaplaken erschienen. Doch ließ sich die Verbreitung nicht aufhalten. Ironischer Weise sorgte hierfür der Amazon-Marktplatz mit seinen Drittanbietern.

Die Reihe Kaplaken besteht aus kleinformatigen, engbedruckten Büchlein von knapp 80-100 Seiten. Neigt man zu Verschwörungen, so wird man die ansprechende Form und den akzeptablen Preis für eine bösartige Unterwanderungsstrategie halten, denn der Inhalt dieser Bücher ist nichts, woran sich Mainstream erfreuen könnte. Die Reihe Kaplaken ist fortlaufend nummeriert und erscheint periodisch in Staffeln à drei. Die letzten drei Staffeln sind diese hier:

Nr. 61 Benedikt Kaiser: Blick nach links. Oder: die konformistische Rebellion.

Nr. 62 Manfred Kleine-Hartlage: Ansage.

Nr. 63 Stefan Scheil: Balkanfront 1941. Churchills Strategie.

Nr. 64 Konstantin Fechter: Bürgerkrieg und Sündenbock. Eine Deutung.

Nr. 65 Eberhard Straub: Republik und Demokratie

Nr. 66 Alexander Gauland: Nation. Populismus. Nachhaltigkeit. Drei Vorträge.

Nr. 67 Armin Mohler: Der faschistische Stil.

Nr. 68 Manfred Kleine-Hartlage: Konservativen-Beschimpfung

Nr. 69 Caroline Sommerfeld: Selbstrettung. Unsere Siebensachen.

Bereits die unterschiedlichen Autoren, teils recht betagt, teils deutlich jüngeren Datums und ein flüchtiger Blick auf die Buchtitel deutet auf eine breite Streuung der vertretenen Überzeugungen hin. Manches ist schwer lesbar, sehr schwer. Einzelnes strotzt vor Bildungsbeflissenheit: Wie schon Meier richtig sagte, als er, unter Bezugnahme auf Müller, den späten Schmitz widerlegte. Doch es gibt auch anderes, das klar und schnörkellos ist. Aus den neun von mir hartnäckig gelesenen Texten werde ich sogleich zwei näher vorstellen. Es sind die beiden Bücher von Kleine-Hartlage, die nach meiner Einschätzung als zwei Seiten ein und derselben Medaille zusammengehören.

Der Text von Kleine-Hartlage Ansage ist in der Tat eine Kampfansage an die Linke in Deutschland, die der Autor als ihr ehemaliger Angehöriger bestens, weil von innen kennt. Er spricht seine Ex-Genossen in einem Ton an, der ihnen, falls sie so etwas lesen sollten, kaum recht sein kann. Im Allgemeinen und im Detail: Ihre Aufkündigung der Ideale, ihre Machtgeilheit, ihre Verlogenheit, ihre Intoleranz und ihr als sicher prognostizierter Untergang, für den der Autor die folgenden Varianten bereithält: Entweder werde die linke Herrschaft vom aufgebrachten, enteigneten und desillusionierten Volk gestürzt werden, oder sie erledige sich beim endgültigen Aus des von der Linken zerstörten Staates und seiner Strukturen, weil fremde Kulturen das Sagen in der Gegend übernommen haben werden, die einstmals Deutschland hieß.

Das zweite Buch von Kleine-Hartlage Konservativen-Beschimpfung richtet sich an und gegen die sogenannte Rechte. Der Autor fährt eine scharfe Attacke gegen die Bürgerlichkeit, der er attestiert, dass sie nur eines will: Endlich wieder an der einst innegehabten Mainstreamposition und der zugehörigen Krippe der Macht teilhaben zu dürfen. Auf diese Weise, so der Autor, täten diese sogenannten Rechten nichts anderes als die herrschende Linke zu stützen – so lange, bis sie schließlich alle zusammen den Bach runtergingen. Das ist starker Tobak, und ich konnte mir das Vergnügen nicht verkneifen, die Adressaten von Kleine-Hartlages Philippika mit den anderen Autoren in der Kaplaken-Reihe und deren Ansichten zu vergleichen. Bei dem einen oder anderen musste ich ein Lächeln unterdrücken.

Das Rezept des Autors für rechte Rechte: Sie müssten endlich erkennen, dass sie sich nicht den Links-Anbiederern anzubiedern haben, sondern sie müssten sich dem von der Linken sträflich vernachlässigten Volk zuwenden. Da werden Ohrfeigen verteilt. Manch einer, der im Wege steht, wird sich erschrocken ducken. Kleine-Hartlage prognostiziert für die Rechte, die das für Quatsch hält, dass sie dem gemeinsamen Untergang mit der Linken geweiht sei. Er ist mehr als skeptisch, ob die Rechte sich in ihrer bequem gewordenen Bürgerlichkeit zum Handeln entschließt, oder es nicht lieber beim wohltemperierten Meckern belässt. Tja.

Man sollte diese Texte von Kleine-Hartlage zur Kenntnis nehmen, aber muss sie nicht unwidersprochen hinnehmen. Sie verletzen eine Grundregel des auf Sieg gepolten Kämpfens: Man schießt nicht auf die eigenen Truppen. Das ist keine moralische Regel, sondern eine der Vernunft, denn es gilt: Wer heutzutage rechts ist, trägt ein Etikett, das er sich in aller Regel nicht selbst angesteckt hat, sondern er wird hiermit behelligt, weil er nach Ansicht von Mainstream einen unverzeihlichen Fehler hat: er frönt dem gesunden Menschenverstand. Diesen zu fördern und nicht zu bekämpfen ist die Aufgabe der sogenannten Vordenker. Wenn diese nichts besseres zu tun haben, als sich gegenseitig öffentlich bloßzustellen, sollten sie besser den Mund halten. Und für die übrigen gilt: Stärkt die Vernünftigen. Ihr werdet sie in einer starken Kolonne brauchen, sonst räsoniert ihr im luftleeren Raum, genau wie die Linken. Ein erster Tipp: Haltet es, wenn ihr schon eines Vorbild bedürftig seid, mit dem weitverachteten Luther und schaut dem Volk aufs Maul.

Ist das jetzt noch eine Rezension, oder ist es etwas anderes. Das mag eine Frage sein, die jemand beantworten soll, der Spaß am Puzzle-Spiel von Theorien hat. Mir selbst liegt das nicht. Doch zurück zur Rezension: Ich habe kontrolliert, ob es die beiden bösen Bücher von Kleine-Hartlage bei Amazon zu kaufen gibt. Das ist der Fall. Erwähnen will ich, dass mir meine elektronische Anfrage einen Amazon-Buchkaufvorschlag einbrachte: Spielen mit Hunden. Soso. Hier handelt es sich offensichtlich um die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz. Bevor der Leser jetzt aha denkt, will ich wenigstens erwähnt haben, dass mich Hunde, jedenfalls im Zusammenhang mit dem Internet im Allgemeinen und mit Amazon im Speziellen noch nie interessiert haben. Doch was gehen mich meine Interessen an. So sehe ich denn demütig der Überschwemmung mit Hundefutterreklamen entgegen.

©Helmut Roewer, April 2020

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*) Dr. Helmut Roewer wurde nach dem Abitur Panzeroffizier, zuletzt Oberleutnant. Sodann Studium der Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen Rechtsanwalt und Promotion zum Dr.iur. über ein rechtsgeschichtliches Thema. Später Beamter im Sicherheitsbereich des Bundesinnenministeriums in Bonn und Berlin, zuletzt Ministerialrat. Frühjahr 1994 bis Herbst 2000 Präsident einer Verfassungsschutzbehörde. Nach der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand freiberuflicher Schriftsteller und Autor bei conservo. Er lebt und arbeitet in Weimar und Italien.
www.conservo.wordpress.com          8.4.2020
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