Anne Will: Sorge vor zweiter Infektionswelle – lockert Deutschland die Corona-Maßnahmen „zu forsch“? (ARD, 26.04.20, 21:45 h)

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Ein Kommentar von Hans-Rolf Vetter *) – als Eröffnungsartikel der neuen Reihe “Framing4Follower”

Wie bearbeitet man eine seit Wochen kursierende Monothematik ohne neue Erkenntnisse? Anne Will kann das. Denn einerseits ist der Sendeplatz nun mal da, und er will gefüllt werden. Andererseits wären ernsthafte Themen wie etwa „gravierende soziale und psychische Nebenfolgen“ des Lockdowns oder dessen „desaströse wirtschaftliche und sozialpolitische Konsequenzen über die nächsten Jahre hinweg“ nun wirklich nichts für ein vom Corona-Alltag inzwischen übermäßig gestresstes Publikum.

Zudem kann sich die Anne auf die positiven Kritiken am Tag danach einfach verlassen, die ihr bescheinigen werden, dass sie einfach mal wieder erfrischend moderiert und ein „Gespür“ für das hat, was den Leuten auf der Seele brennt. Und siehe: das faz.net jubelt da auch schon gleich am Montagmorgen: „Da sage noch einer, über Corona ließe sich nicht trefflich streiten.“ Diese Einordnung ist zwar durch und durch falsch, denn man kann sich nur über die Frage streiten, wie man mit Corona umgehen sollte, aber nicht über die Tatsache, dass Corona existent ist. Aber was soll`s!Denn wie niedrig das Aussageniveau ohnehin aus sich selbst heraus bereits angesetzt worden war, zeigt allein schon die Tatsache, dass Anne Will endlich wieder eine Grünin einladen konnte, weil man bei dieser Thematik nun wahrlich nicht annehmen musste, dass sich da im pro-ökologisch-sozialistischen Staatsfernsehen die Führer der Grüninnen durch ihren in den letzten Wochen und Monaten kommunizierten „Unsinn“ weiterhin selbst entlarven würden. Nein, nein, hier war ja nur „Meinung“ angesagt und die lauthals zu verkünden, das ist nun mal „die“ Paradedisziplin dieser Politikdarstellerinnen mit Märchenerzähler und „Politologie“-Hintergrund.

So fällt auch erwartungsgemäß die gute Bewertung durch den „Tagesspiegel“ (Matthias Kalle) aus, der es schon als „frohe“ Botschaft goutiert, dass von Will keine Journalisten-Kollegen eingeladen worden waren, weil die angeblich nur noch ein „One-Trick-Pony“ reiten, indem sie Fragen stellen und Sorgen wegen der Rechtsstaatlichkeit der Lockdown-Maßnahmen und so weiter äußern. Und das sind in diesen Tagen nun natürlich derartig nebensächliche Themen bei der Krisenbewältigung der Pandemie, dass man sich direkt selbst dabei ertappt, welch blödsinnige Erwartungen bzgl. der Erkenntnisqualität der ÖRM einen zuweilen befallen könnten. Zumal auch noch, wenn man von Herrn Kalle darauf aufmerksam gemacht wird, dass es ja „den Staat“ gibt, und dass nicht jede(r) wie etwa ein Lindner da mir-nichts-dir-nichts diskursiv herumfuchteln und an dessen Weisheit zweifeln darf.

Aber ohnehin egal, denn wir wollen ja bei Anne Will bleiben. Die hatte folgende Gäste eingeladen und mit ihnen folgende Dramaturgie gewählt:

  • Den Ministerpräsidenten von NRW, Armin Laschet als „weißen Ritter der Corona-Diskussionsorgien um etwaige Lockerungen“,
  • den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach – ja, genau der mit der Fliege früher – als „Großinquisitor eines drakonischen Lockdowns“,
  • Annalena Baerbock, Co-Vorsitzende der Grüninnen, als „unschuldige Naive und Verbotsfetischistin“,
  • Christian Lindner von der FDP – ja, die Partei gibt es noch – als „besserwisserischen Streithansl für die Resterampe der demokratischen(!) Rechtsstaatlichkeit“ – im Übrigen ein in der Bundesrepublik schon immer äußerst anstrengendes und brotloses Unterfangen
  • sowie aus München zugeschaltet:
  • Christina Berndt, ihres Zeichens Bio-Chemikerin und „Wissenschaftsredakteurin“ bei der Süddeutschen“ als…? „Staffage“ denke ich. Sie wird übrigens in den Kommentaren zu dieser Sendung nahezu nirgendwo wirklich erwähnt, dabei unterstützt sie doch redlich den „Großinquisitor Lauterbach“. Aber das reicht eben nur für eine Minimalrolle.

Die eigentliche Story der Sendung bzw. deren absolut lauer, nervtötender „Dramaturgie“ ist schnell erzählt:

Dem Laschet platzt der Kragen, obwohl er eher implodiert. Die Virologen behaupten mal dies, mal das. Die Schulöffnungen laufen doch ganz gut an und vor allem geht es jetzt um ein zeitnahes „Abwägen“ ausgeglichener Maßnahmen auf dem Weg zu einer vorsichtigen Wiedergewinnung von Normalität. Da hat der Armin aber die Rechnung ohne den Karl gemacht! Denn der „hätte jetzt noch gar nichts geöffnet“! Weil: dem Großteil der Bevölkerung steht die Infektion noch bevor und überhaupt: das Ganze wird sich bis zum Jahr 2022 hinziehen. Und was ist überhaupt mit dem R-Faktor? Schon mal gespannt, dass der schnell wieder über 1.0 liegen könnte, du dummer Armin Du! Jawoll, sagt da die Christina: Auch sie findet „es zu forsch, was hier in den letzten Wochen passiert ist“ und im Übrigen steht sie – welch ein Wunder für ein SZ-Redakteurin – überhaupt voll hinter unser aller Kanzlerin! (Womit sie wahrscheinlich für die SZ ein Fleißkärtchen für die weitere staatliche Förderung von „unserer“ Demokratie erwirtschaftet hat.)

Bleibt noch der Nebenschauplatz zwischen der Annalena und dem Christian. Man muss nun der Grünin nicht schon wieder sogleich vorwerfen, sie verkörpere die Rückkehr zur bewährten „Verbotspolitik“ (bild vom 27.04.20), aber selbstverständlich geht es um – na ? – „Gerechtigkeit“ und um die „Schwachen“. Denn der Lindner fordert doch wahrhaftig das Comeback der Bundesliga, wo doch „ein Kind noch nicht einmal auf eine einsame(!; Ve) Schaukel darf“; oder ein kleiner Junge gar „bolzen“ dürfte. Und nun kommt`s ganz dicke: So nämlich „verspielen (wir) mit solchen Überlegungen den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. (…) Erst müssen die Schwachen geschützt werden!“ Tja, Christian, was nun?

Argumente wie die, stärker auf die unterschiedlichen Auswirkungen der Corona-Epidemie in den einzelnen Regionen zu schauen, oder alle weiteren Entscheidungen Richtung Rückkehr zu einer einiger Maßen stabilen „Normalität“ vor allem vom Aufbau und der Durchführung eines realistischen und professionell gemanagten „Hygienekonzepts“ abhängig zu machen, wie es die DLF gemacht hat, verpuffen ob solcher Herzlosigkeit da selbstverständlich im Orkus der emotional angelegten Inszenierung. Rationalität ist eben sowas von gestern!

Was will Will bzw. „Anne Will“ uns sagen: der Laschet wird niemals Kanzler, dafür ist er plötzlich zu reflektiert und eigenwillig; der Lauterbach ist ein ganz, ganz Strenger und weiß alles lediglich auf Virologie herunter zu brechen; bei niedrigschwelligen Themen können auch die Grüninnen endlich wieder mitmachen; der Lindner ist einfach ein besserwisserischer Unsympath, und dem Land werden mit den Christinas die Claqueure niemals ausgehen. Ehrlich, mehr war einfach nicht!

  • Dass uns in Deutschland und Europa die sozialpsychologischen Probleme quer durch alle Altersgruppen hindurch ohne Lockerungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens bald um die Ohren fliegen werden;
  • dass Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Einkommenseinbußen, Pleiten, partiellem Verlust von Rentenanwartschaften, Durchkreuzung ihrer Karrierepläne, Gewalterfahrungen, Traumatisierungen usf. auf unabsehbare Zeit bedroht bleiben –
  • für solche Themen, liebe Leute, ist zur Zeit nun wirklich kein Gesprächsbedarf! Deshalb haben sich der Laschet und der Lindner ja auch am Sonntagabend so sehr verzockt. „Abwägen“ – was für ein Quatsch!

Die Kunst der ÖRM a la „Anne Will“ besteht einfach darin, die geistigen Horizonte so eng zu definieren, dass interdisziplinäres(!) Fachwissen, Rationalität und konstruktive Streitkultur einfach keinen wirklichen Nährboden vorfinden. Wenn Ihr also diese „bleierne“ Zeit sinnvoll nutzen wollt, so gewöhnt Euch einfach mal daran, dass die Regierung wie schon früher so auch heute wieder einfach „alternativlos“ richtig liegt und für Euch, die #Ihr dabei seid, noch viel, viel mehr an „Wohltaten“ in Reserve hat.

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*zum Autor:
Univ.-Prof. i.R. Dr. Hans-Rolf Vetter, Jahrgang 1943, Leonberg/BW, Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftliche Sozialpolitik, Moderne Erwerbsbiographien, Soziale Systeme und Mediation; siehe auch: hans-rolf vetter.com
www.conservo.wordpress.com      30.04.2020
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