NORDSTREAM 2: Produzenten von Öl und Gas verlieren an Macht und Einfluss in der Geopolitik und Geostrategie

(www.conservo.wordpress.com)

Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist*)

Die gegenwärtige Diskussion um Weiterbau oder Stopp der Pipeline „Nordstream 2“ bleibt an der Oberfläche. Es werden Meinungen, Hoffnungen und Erwartungen ausgetauscht bei wenig belastbaren Fakten.

Es geht aber um die globale Entwicklung der konkurrierenden Energiequellen in der Zukunft. In den nächsten Jahrzehnten wird es dramatische Änderungen in der globalen Geopolitik geben. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Weltregionen. Die EU-Präsidentin von der Leyen setzt ehrgeizige Ziele für Europa. Es muss sich zeigen, ob sie diese auch durchsetzen kann. Zwischen Ankündigung hehrer Ziele und der Verwirklichung gibt es bei ihr – siehe Bundeswehr – große Lücken.

Bislang ist die Produktion von Öl und Gas ein dominierender Machtfaktor in der Weltpolitik . Es gibt erste deutliche Anzeichen, dass sich die politischen Gewichte global verschieben werden – weg von bisher mächtigen Gas- und Öl produzierenden Ländern hin zu High-Tech-Giganten. (siehe „ The Economist“ vom 19. September 2020 mit dem Beitrag „petrostate vs electrostate und dem Special Report „Business und climate change – The great disrupter“).

In 10-30 Jahren werden sich Gewinner und Verlierer herausschälen.

Wer diese Entwicklung negiert oder verschläft, wird der deutschen Autoindustrie in den Niedergang folgen.

In dieser Frage sollten wir zu den Gewinnern zählen.

Haben wir noch den politischen Willen, die Innovationskraft und die Zeit, uns dieser großen Herausforderung zu stellen?

Ein kurzer Blick zurück

 Bis in die heutige Zeit sind die Gas- und Ölproduzenten mit ihren Vertriebsorganisationen im Kartell der OPEC starke und wichtige Player für die globale Energiesicherheit – die Versorgung mit Energie. Sie können nach Absprache im Kartell Preise und Liefermengen bestimmen.

Der autofreie Sonntag in Deutschland im November! 973 war nicht dem Umweltschutz gewidmet. Es war die Reaktion der deutschen Regierung auf Preissteigerungen und Lieferkürzungen durch das OPEC-Kartell.

Der „autofreie Sonntag“ galt für vier Sonntage. Die Autobahnen wurden zu Familienausflügen auf „breiten Radwegen“ genutzt. Die Bundesregierung fasste als Reaktion den Beschluss der Einführung der Sommerzeit und der Planung und Bau von 40 AKW.

Das OPEC- Kartell wollte nach dem Sieg Israels mit diesen Einschränkungen Druck auf Israel und seine Verbündeten erhöhen, was mittel- und langfristig zu einem Wohlverhalten mancher Konsumentenstaaten gegenüber dem OPEC- Kartell führte. Diese Zeiten der offenen Erpressung ändern sich. Der globale Gas- und Ölmarkt wird allmählich zum Käufermarkt aus mehreren Gründen:

Der globale Markt für Gas und Öl ändert sich fundamental – weil der weltweite Bedarf an fossiler Energie schrumpft: durch die Corona-Pandemie, die erneuerbaren Energien,die ihre Marktanteile erhöhen und neue potente Produzenten – wie z.B. Guayana – dazu kommen.

Dazu kommen Flüssiggasimporte aus den Fracking-Unternehmen aus den USA.

Dieser Prozess wird den Weltmarkt verändern.

Bei sich zunehmend verändernden Verhältnissen von Angebot und Nachfrage werden sich die Preise und die Lieferwege verändern. Innerhalb der OPEC wird die Solidarität kontinuierlich abnehmen. Die interne Konkurrenz wird zunehmen – so wie der Preisdruck der „Großkunden“. Von dieser Entwicklung werden besonders Russland und die Vereinigten Staaten betroffen sein. Amerika ist heute der Top-Produzent von Gas und Öl.

Dubai – ein wichtiges Mitglied der Vereinigten Arabischen Emirate – hat diese Entwicklung frühzeitig erkannt und seine Wirtschaft auf die „Zeit nach dem Öl“ mit Erfolg umgestellt.

China hat frühzeitig begonnen, seinen Bedarf an Energie zu diversifizieren – von Afrika über Australien nach Lateinamerika – und diese Lieferketten durch eine modernisierte Marine zu sichern.

China steigert zeitgleich Qualität und Quantität seiner AKW und den Import ausländischer Kohle. Das Durchschnittsalter seiner 48 AKW liegt unter zehn Jahren.

„ The Economist“ widmet dem größten Konkurrenten für die Öl- und Gasversorgung eine Titelgeschichte „21st century power – How clean energie will remake geopolitics“.

Solche Prognosen beachten zu wenig die Folgen für den Arbeitsmarkt – politisch, sozial und kulturell.

Beispiele für diese Folgen gibt es bereits heute in der andauernden Corona-Pandemie. Allerdings gibt es eine dunkle Seite:

„The BP analysis argues that in a world going all out for the share of energy used in the form of electricity would rise from about a fifth in 2018 to just over half in 2050.“ ( s. “The Economist“ Petrostate v, electrostate“ vom 19. September 2020).

Der Strom kommt aus der Steckdose – auch für Elektromobilität und „smart“ Häuser sowie Fahrzeuge, die Computer auf Rädern werden.

Werden moderne Batterien in der Lage sein, Elektrizität in dem nötigen Umfang für Verbrauchsstoßzeiten zu speichern?

Was heißt das für Deutschland?

Es besteht kein Grund zur Panik und Schnellschüssen.

Die Frage sollte nicht reduziert werden auf die Frage nach der Zukunft der Pipeline „Nordstream 2“.

Ihre Wirtschaftlichkeit ist seit Beginn der Planung bezweifelt worden. Es wird leicht übersehen, dass die Fertigstellung einer Pipeline zu niedrigeren Preise für die Konsumenten führt.

Letztlich war es eine – teure – „politische“ Entscheidung von Präsident Putin und dem deutschen Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Das wichtige Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ist trotz des Baus im Keller. Neben den Baukosten sollten auch die (hohen) Betriebskosten in die Kalkulation für eine Fertigstellung der Pipeline einbezogen werden. Es macht keinen Sinn, gutes Geld „schlechtem“ Geld hinterher zu werfen.

Das angeblich großzügige Angebot des neuerdings spendablen Olaf Scholz, den USA einen Zuschuss von einer Milliarde für den Bau von zwei Terminals für amerikanisches Flüssiggas zu bezahlen, wenn die ihre Einwände gegen die Fertigstellung von Nordstream 2 zurückziehen würden, wurde abgelehnt. Eine weitere Schlappe für den SPD-Kanzlerkandidaten! War es ein Alleingang ohne Rücksprache mit der Kanzlerin und anderen zuständigen Ministern?

Selbst nach Fertigstellung wird Nordstream 2 im globalen Markt eine nachrangige Rolle spielen.

Einzelne OPEC- Staaten werden sich offen oder verdeckt einem Diktat der OPEC zu entziehen, wie es in der Vergangenheit häufiger der Fall war.

Die Reduzierung des Anteils von fossilem Brennstoff muss davon ausgehen, dass der Anteil von fossiler Energie bei rd. 85. Prozent der gesamten fossilen Brennstoffe liegt.

Ein langer Weg liegt vor dem anvisierten Umbruch.

Ein mehrjähriges Moratorium gibt die Chance, eine neue Analyse einzuleiten, die auch die berechtigten Interessen der bisherigen Transitländer Polen und Ukraine und aller Ostsee-Anrainerstaaten sowie natürlich der Energiegroßmacht USA angemessen einbezieht.

Das Moratorium muss alle wichtigen Interessenvertreter einbeziehen.

In dieser Gruppe müssen auch Vertreter mitarbeiten, die besonders auf mögliche Folgen für die Menschen achten.

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*) Brig.General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.
Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.
Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.
In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt.
Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegenerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.
Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.
Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.
Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.
www.conservo.wordpress.com    29.09.2020
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