Stellvertreterkrieg in Berg-Karabach? Russland zurückhaltend, Türkei zündelt

(www.conservo.wordpress.com)

Von Peter Helmes

Derzeit rückt eine Region wieder in das Rampenlicht der Öffentlichkeit, von der wohl nur wenige wissen, wo es liegt und von welcher politischen und kulturellen Gefahr es bedroht ist. Berg-Karabach ist eine kleine Enklave (etwa so groß wie das Ruhrgebiet), die rundum von Aserbaidschan umgeben ist. Die Enklave wird aber heute hauptsächlich von Armeniern bewohnt, wie auch die sieben umliegenden Provinzen, die auf armenischem Boden liegen.

Nach mehr als 20 Jahren ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach wieder aufgeflammt: Bei den schweren Kämpfen in den letzten Tagen sollen mehr als 50 Menschen ums Leben gekommen sein. Und die seit drei Tagen andauernden Gefechte zwischen Armenien und Aserbaidschan weiten sich offenbar aus. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, auch Gebiete jenseits der umkämpften Region Berg-Karabach unter Beschuß zu nehmen. Die Beschuldigungen mehren sich auf beiden Seiten.

Unendliches Leid, unendliche Tragik

Die Eskalation ist die schlimmste seit 1994. Damals waren 30 Menschen bei gewalttätigen Auseinandersetzungen getötet worden, darunter 18 auf armenischer und 12 auf aserbaidschanischer Seite. Sehr viel Blut floß damals, 1994. Über eine Million Menschen verloren ihre Heimat, Zehntausende starben, bis Aserbaidschan und Armenien endlich offiziell die Kämpfe einstellten und am 12. Mai vor 22 Jahren ein Waffenstillstandsabkommen unterschrieben. Die Geschichte von Bergkarabach und der Völker, die in der Region leben, kennt unendliches Leid, unendliche Tragik.

Die Situation erlaubt keine schnellen, keine eindeutigen Urteile. Die seit mehr als einem Jahrhundert schwelende Krise kennt so viele Akteure, so viele Wendungen und Windungen, so viel Verantwortung und Schuld auf vielen Schultern, daß es sich verbietet, mit dem Finger vorschnell in nur eine Richtung zu zeigen. Möglich sind hingegen einige Befunde:

Aserbaidschan, das einzige muslimische Land im überwiegend christlichen Südkaukasus                                                                                                                              

Es ist nicht nur, aber auch ein Konflikt, in dem sich Christen und Muslime gegenüberstehen. Armenien ist eines der ältesten christlichen Länder überhaupt, mit einer Christianisierung Anfang des vierten Jahrhunderts. Auf der anderen Seite Aserbaidschan, das einzige muslimische Land im Südkaukasus.

Konfliktanheizer Türkei

Auf diesen Landstrich erheben die Armenier Anspruch, Aserbaidschan aber auch. Kampf droht – bis zu einer finalen Lösung. Und in diesem Kampf spielt die Türkei die Rolle des Anheizers. Im Hintergrund lauert ein kultureller Konflikt: Berg-Karabach und die Armenier sind weit überwiegend christlich geprägt, Aserbaidschan hingegen islamisch.

Es ist nicht hilfreich, hinter diesem Konflikt allein das übliche Spiel großer Mächte zu sehen, die versuchen, auf dem Schachfeld Kaukasus ihren Vorteil zu erlangen und dazu einige Bauern umherschieben. Wie in vielen Konflikten der Welt gibt es auch hier zu viele lokale Profiteure, die an einem weiterschwelenden, regelmäßig überkochenden Konflikt mehr verdienen, der ihnen zur Macht verhilft.

Zweideutige Rolle Russlands

Dennoch sind den beiden Mächten Russland und Türkei ernstzunehmende Vorwürfe zu machen: Der türkische Präsident gibt sich erwartungsgemäß einseitig. Er mahnt nicht, sondern stachelt auf – an der Seite des aserbaidschanischen Diktators Ilham Hejdar Älijew. So etwas ist komplett unbrauchbar in einem Konflikt, in dem Härte nur zu neuer Härte führt.

So ist die Gemengelage auch jetzt schwer zu durchschauen. Die erneute Eskalation der Gewalt in Berg-Karabach ist nicht ohne den inzwischen offen ausgetragenen Konflikt zwischen Russland und der Türkei zu erklären. Russland gibt sich allerdings (zu) wenig deutlich bemüht, beschwichtigend auf die Auseinandersetzung in Berg-Karabach einzuwirken.

Damit bleibt Russland weit unter seinen Möglichkeiten. Es geht seit Jahren seinem Interesse nach, sowohl Aserbaidschan als auch Armenien von sich abhängig zu machen. Weil Armenien das bei weiterem kleinere, ärmere und schwächere Land ist, ist Eriwan viel stärker als Baku auf Moskau angewiesen.

Doch Russland ist im Vergleich zur Türkei die stärkere Macht. Wer, wenn nicht Moskau, wäre wohl in der Lage, mit langem Atem wenigstens erste Verhandlungsschritte zu gehen, Sicherheitsgarantien für alle Seiten zu geben – kurzum: zur Abwechslung mal aktive Friedenspolitik zu betreiben?

Es müßte dazu auch die Scharfmacher in Armenien, Bergkarabach und Aserbaidschan mäßigen, es müßten den vielen russischen Worten auch Taten folgen. Daß Russland sich beharrlich am Rande des Nichtstuns bewegt, ist unverständlich.

Der türkische Präsident Erdogan gibt hingegen den Anheizer: Er hat mit seiner Ankündigung, Aserbaidschan „bis zum Letzten“ zu unterstützen, die Kampfrhetorik verschärft. Seit fast 30 Jahren war es immerhin dort vergleichsweise ruhig.

Der neue Gewaltausbruch mit zahlreichen Toten ist besorgniserregend Kompromißbereitschaft zeigt weder die eine noch die andere Seite. Die Komplexität der Spannung und somit die eigentliche Gefahr besteht darin, daß hinter den Konfliktparteien zwei Großmächte stehen, nämlich Russland hinter Armenien und die Türkei hinter Aserbaidschan. Moskau und Ankara verstehen sich seit geraumer Zeit nicht mehr. In Libyen unterstützen sie jeweils andere Gegner. Bei der Auseinandersetzung im Mittelmeer versucht Putin, Erdogan daran zu hindern, dort Gas zu fördern. Die internationale Gemeinschaft muß wachsam sein und mit allen Mitteln verhindern, daß ein Stellvertreterkrieg entsteht

Russland „Schutzmacht“ Armeniens  

Nun droht die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts. Denn einerseits ist Russland „per Vertrag“ Schutzmacht Armeniens, und andererseits sind die Türkei und Aserbaidschan kulturell und sprachlich sehr eng beieinander. Deshalb wohl fühlt sich Erdogan verpflichtet, für die aserbaidschanische Seite Position zu ergreifen.

Es ist derzeit ziemlich klar ersichtlich, daß die Eskalation jetzt von Aserbaidschan ausgeht. Armenien hat alles bekommen, was es wollte: die Kontrolle über seine Grenze von Berg-Karabach. Aserbaidschan hingegen träumt von der Wiederherstellung der territorialen Einheit.

Die Angriffe auf Berg Karabach sind das aktuelle Ergebnis einer nationalistischen Gesinnung und mehrjährigen Hochrüstens auf aserbaidschanischer Seite. Die provokative Kriegsbesessenheit der aserbaidschanischen Regierung stellt eine Behinderung des friedlichen Lebens und eine Gefahr für die zivile Bevölkerung dar. Aufforderungen der internationalen Gemeinschaft, den Konflikt durch die politischen Verhandlungen zu lösen, werden seitens Baku schlichtweg ignoriert.

Die ruckartige Aufkündigung der seit 1994 bestehenden Waffenruhe scheint, mit Blick auf innenpolitische Schwierigkeiten des Staatsführers Aliyev, ebenso Grund für die Eskalation des Konflikts zu sein wie binationale Interessen des türkischen Staates. Denn dank finanzstarker Propagandaarbeit ist die Innenansicht des Landes in Deutschland weitgehend unbekannt. Menschenrechtsverletzungen, der Umgang mit Dissidenten, die Pressefreiheit und Vorwürfe, sich persönlich an den Öl-Reserven des Landes zu bereichern, bedingen eine wirksame politische Ablenkung.

Aber eines ist klar: Solange die Probleme zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht gelöst sind, wird kein Waffenstillstand lange Bestand haben.

Insbesondere mit militärischer, wirtschaftlicher und politischer Unterstützung Russlands konnte das wesentlich kleinere Armenien einen Verteidigungsapparat aufbauen, den Aserbaidschan lieber nicht auf die Probe stellen sollte. Stattdessen hat Aserbaidschan jahrelang selbst seine militärischen Kapazitäten ausgebaut. Wenn es jetzt entschlossen ist, sie einzusetzen, dann vielleicht deshalb, weil es sich sicher genug ist. Dies würde einen herkömmlichen Krieg bedeuten und zudem eine noch stärkere Destabilisierung in der Region. Denn wenn sich die Armenier nicht mehr darauf verlassen könnten, daß das Bündnis mit Moskau den Status quo im Kaukasus garantiert, könnten sie sich die Frage stellen, wozu dieses Bündnis überhaupt gut ist. Und derartige Fragen hat Moskau nicht gern.

Die aserbaidschanische Militäroffensive gegen die von Armeniern bewohnte Enklave Berg-Karabach ist nur möglich geworden, weil der türkische Präsident Erdogan dem autokratischen Regime in Baku seit Jahren militärische Hilfe leistet. Damit ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan in eine neue Phase getreten. Denn davor war Baku vollständig von Rüstungslieferungen aus Russland und aus Israel abhängig. Es ist besorgniserregend, daß Erdogans Ambitionen zu immer mehr Spannungen führen. Es könnte fatale Folgen für Erdogan haben, wenn er sich jetzt mit dem Kaukasus in eine weitere Krisenregion hineinziehen ließe.

Die haltlosen Vorwürfe des türkischen Präsidenten R.T. Erdogan, der den aserbaidschanischen Staat in Anwendung panturkistischer Ideologien zum Brudervolk erklärte, gegenüber der OSZE zeigen, daß die Türkei ein Interesse daran hat, die Minsk-Gruppe als Teil der internationalen Gemeinschaft, mit welcher Erdogan immer deutlicher auf Schwierigkeiten stößt, vorzuführen und von der eigenen Aggressionsneigung abzulenken.

Niedergang der aserbaidschanischen Wirtschaft                                                        

Eine der Hauptursachen der aserbaidschanischen Konfliktbereitschaft dürfte jedoch im Niedergang der dortigen Wirtschaft und der damit einhergehenden politischen Krise in Aserbaidschan zu verorten sein, die herrschende Regierung schwächt. Das hat vor allem mit dem gefallenen Ölpreis zu tun.

Türkische Interessen – Solidarität mit Aserbaidschan                                            

Das noch größere Interesse an einem Wiederaufflammen des seit 1988 ungelösten Berg-Karabach-Konfliktes dürfte die Türkei haben. Der türkische Präsident Erdogan hatte mehrfach einen Besuch in Baku geplant, wegen der Terroranschläge in der Türkei aber verschoben.

Die bis vor kurzem freundschaftlichen Beziehungen zwischen Ankara und Moskau hatten sich rapide verschlechtert nach dem türkischen Abschuß eines russischen Kampfflugzeuges im Herbst, wodurch sich die türkischen Interessen nun gegen Moskau richten. Aserbaidschan wird stark von der Türkei unterstützt, zumal Erdogan den Südkaukasus nicht mehr länger unter russischem Einfluß stehenlassen will.

Die Türkei werde immer an der Seite Aserbaidschans sein, versicherte einmal (1914) der damalige türkische Premier Davutoglu. (Russische Fernsehsender berichten, daß sich in den Reihen der aserbaidschanischen Streitkräfte türkische Instrukteure befinden sollen.)

Die Russen stehen zu Armenien                                                                                     Russische Streitkräfte stehen in Armenien, Moskau versteht sich als Schutzmacht Jerewans (Eriwans), aber unterhält auch gute Verbindungen zu Aserbaidschan, verkauft Waffen an Baku. Deswegen ist die offizielle Mittlerposition Moskaus wenig glaubwürdig, auch wenn Präsident Putin als erster zu einer Beilegung des Konfliktes aufrief.

Die Lage ist für alle Seiten im Grunde genommen frustrierend: „Frieden“ zu finden, ist in weite Ferne gerückt. Und ob die Menschen dort irgendwann tatsächlich Frieden genießen können – ohne die ewige, schlimme Angst vor dem nächsten Beschuß, vor der nächsten Explosion – liegt nicht in ihrer eigenen Hand, sondern in der Hand fremder Mächte.

www.conservo.wordpress.com      29.09.2020
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