Zum Volkstrauertag: Ist die derzeitige Weltkriegs-Erinnerungskultur zukunftsfähig?

(www.conservo.wordpress.com)

VON DR.PHIL.MEHRENS

Der Dauermissbrauch des Holocaust-Gedenkens zur Delegitimation von Oppositionskräften hat die deutsche Erinnerungskultur nachhaltig beschädigt. Wie geht es weiter?

Am 25. Juni 2020 stand in einer der renommiertesten Tageszeitungen Deutschlands Sätze, die das Zeug zum Skandal haben, und man muss schon fast froh sein, dass sie in einem des Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus so wenig verdächtigen Blatt wie der FAZ zu lesen waren. Denn könnte aus dem Text an dieser Stelle nicht zitiert, sondern alles nur mit eigenen Worten gesagt werden, wäre das wohl eine Einladung an den Verfassungsschutz, eine Aktennotiz anzulegen.

Das Interview, aus dem nachfolgend zitiert wird, führte die FAZ mit dem Historiker Wolfgang Reinhard. Er sagte:„Ich würde die deutsche Erinnerungskultur als Erinnerungszwang definieren. Der Zwang, zu erinnern und das Verbot zu vergessen, sind in Deutschland rechtlich festgeschrieben. Ich persönlich würde sagen, auch das Verbot der Holocaust-Leugnung ist unangebracht. Wenn jemand das leugnen will, muß man sich mit ihm auseinandersetzen, aber nicht mit Hilfe des Kadis eine bestimmte Auffassung von Erinnerungskultur erzwingen.“

Worauf Reinhard hinzuweisen und sich damit in radikale Opposition zur etablierten politischen Doktrin zu setzen wagt, ist der merkwürdige Spagat, zu dem sich die Bundesrepublik wegen ihres schweren historischen Erbes verpflichtet fühlt und der dennoch, wie jeder Spagat, auf Dauer nicht durchzuhalten sein wird:

Einerseits fühlt sich unser Rechtsstaat den grundlegenden demokratischen Werten der Aufklärung verpflichtet, wie sie sich 1789 nicht nur in der Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen verewigt haben, sondern auch im freiheitlichen Selbstverständnis des aufgeklärten Europa und damit der EU fest verankert sind. Andererseits befürwortet er offen Sanktionen für Orthodoxieskeptiker.

Vielen mag das nicht bewusst sein, aber es ist ein Problem, wenn man einerseits auf jede ideologische Festlegung, ja sogar von jedem Rekurs auf eine jenseits des verfassungsgebenden Gesetzestextes beheimatete objektive und für alle gültige Wahrheit absieht und gleichzeitig anfängt, mit Dogmen aus eben diesem Jenseits zu argumentieren.

Man kann nicht Glaubensfreiheit proklamieren und im selben Atemzug einschränkend hinzufügen, dass allerdings diese oder jene Anschauung – Extrembeispiel: die Holocaust-Leugnung – nicht akzeptabel ist. Das Grundgesetz wollte nach der Katastrophe der Judenvernichtung jeden ideologischen Zugriff auf das Bürgerrecht kategorisch ausschließen. Dieses Prinzip darf nicht untergraben werden, auch nicht aus den vermeintlich richtigen Motiven.

Das dogmatische Festhalten der Bundesrepublik Deutschland an einer bestimmten Form der Erinnerungskultur wird sich in den nächsten Jahrzehnten noch einer Reihe weiterer Probleme ausgesetzt sehen, die schließlich – früher oder später – für sein Verschwinden sorgen dürften.

1. Nachwachsende Generationen

Der größte Feind der orthodoxen Erinnerungskultur ist die Trivialkategorie Zeit. Hundert Jahre nach Gründung der NSDAP wachsen nun Menschen heran, für die Adolf Hitler so weit weg ist, wie es zur Zeit der Studentenunruhen der deutsche Kaiser Wilhelm I. war. Sie kennen ihn als Karikatur aus Verballhornungen wie Dani Levys „Mein Führer“ oder dem Timur-Vernes-Bestseller „Er ist wieder da“.

Wer sich jenseits solcher Verzerrungen ein Bild vom „Führer und Reichskanzler“ machen will, sieht sich verwiesen auf einen Geschichtsunterricht, in dem Hitler neben Figuren wie Dschingis-Khan und Napoleon einsortiert werden kann. Es mag sich – unter dem Einfluss des dafür nötigen Schulungspersonals – eine Negativemotionalität anerziehen lassen, wie man sie beim Namen Nero empfindet, aber das Gefühl einer persönlichen Mithaftung für die Verbrechen von damals wird ein Mensch, der weder Eltern noch Großeltern hat, die bereits vor 1945 lebten, nicht mehr entwickeln können. Nicht in einem freien Land.

Noch aussichtsloser dürfte das Unterfangen sein, dem massiv wachsenden Bevölkerungsteil, dessen Vorfahren zwischen 1933 und 1945 einem komplett anderen Kulturkreis, womöglich auf einem anderen Kontinent angehörten, zu erklären, dass er als Inhaber eines deutschen Passes zum Miterben der Kollektivschuld des Holocaust geworden ist. Viele Migranten oder Nachfahren von Migranten sind mit einem völlig anderen Israel-Bild groß geworden, dem des Islam. Mit der Mitverantwortung für die antisemitischen „Hassverbrechen“, die der deutsche „Erinnerungszwang“ ihnen auferlegen möchte, ist das in keiner Weise zur Deckung zu bringen.

Alle Muslime aus dem arabischen Sprachraum haben ein Narrativ verinnerlicht, das die Juden nicht zu Opfern, sondern zu Tätern einer illegalen Landnahme und Vertreibungspolitik erkärt. Zu allem Überfluss haben sie auch noch die heiligen Schriften verfälscht. So nämlich erklärt der Islam die Widersprüche zwischen Thora und Koran (etwa die Verwechslung von Isaak und Ismael). Jedem deutschen Spitzenpolitiker, jedem künftigen deutschen Kanzler, der der Nachkriegsdoktrin gemäß das arabische Opfer- gegen das deutsche Täternarrativ auszutauschen sich anschickt, darf man schon jetzt eine überreichlich ausgestattete Bundeszentrale für politische Bildung und vor allem viel Glück wünschen. Er wird es brauchen.

2. Zunehmende Emanzipation vom Herrschaftsdiskurs

Zunehmen wird in den vor uns liegenden Jahren auch der Bevölkerungsteil, der den Missbrauch des Holocaust zur Delegitimierung alternativer politischer Richtungen durchschaut, zumindest wenn das Grundgesetz in seiner derzeitigen Fassung und die Freiräume, die das Internet oppositionellen Bewegungen bietet, erhalten bleiben.

Was derzeit unter dem Begriff „Cancel-Culture“ traurige Berühmtheit erlangt, ist nur ein Beispiel für die unzähligen Versuche pseudodemokratischer Ideologen, ihre Weltsicht in den Status einer staatlichen Einheitsdoktrin zu hieven.

Die aggressive Antifa-Rhetorik, die in jedem einen Nazi wittert, der ihre neokommunistische Weltanschauung in Frage stellt, und jeden Migrationskritiker zum Rassisten erklärt, hat dem Holocaust-Gedenken einen Bärendienst erwiesen.

Man könnte auch von einem durch falsche Handhabung und Überbeanspruchung stumpf gewordenen Werkzeug sprechen, von einer überdrehten Schraube, von unsachgemäßem Gebrauch, der auch das solideste Gerät irgendwann ruiniert. Die Generation der nach der Jahrtausendwende Geborenen ersetzt das Fernsehen, einst unumschränkt herrschendes Leitmedium, durch das viel pluralere Internet. Langfristig wird das die alten Propagandakanäle schwächen und rechten Bewegungen ähnlichen Auftrieb verschaffen, wie ihn die politische Entwicklung in den USA erkennen lässt. Jüngere werden das Holocaust-Gedenken zunehmend als verzweifelten Überlebensreflex einer untergehenden Ära empfinden, ein starres Ritual, von dem sie sich emanzipieren werden.

3. Natürliche Gedächtnisschwäche

Als Friedrich Schiller 1791 seine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges schrieb, galt die monumentale Katastrophe, die Europa drei Jahrzehnte in Atem hielt, als der Super-GAU, das größte anzunehmende Unglück, im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Es geschahen unbeschreibliche Gräueltaten. Was aber weiß der durchschnittliche Deutsche heute noch über diesen Konflikt, außer dass er dreißig Jahre dauerte? Wem ist Tillys Massaker unter der Magdeburger Zivilbevölkerung mit rund 30.000 Todesopfern binnen drei Tagen bekannt? Wem die 53 enthaupteten Frauen, die man allein in einer Kirche fand?

Die Erinnerung an die Verheerungen des Religionskrieges ist verblasst wie eine alte Fotografie, die zu lange dem Sonnenlicht ausgesetzt war. Sie sind nicht mehr als ein schwaches Glimmen aus der Ferne der Geschichte, das einmal kurz im Dunkel aufglüht, wenn der Krieg von 1618-1648 im Geschichtsunterricht durchgenommen wird. Sie sind überlagert von den subjektiv als viel grausamer empfundenen späteren Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Holocaust und Zweiten Weltkrieg wird dasselbe Schicksal ereilen. Sie werden in den Schatten gestellt werden von den Katastrophen, die sich im 21. und 22. Jahrhundert ereignen werden – vielleicht befinden wir uns aktuell am Ausgangspunkt einer solchen. Und die nachfolgenden Generationen werden in der Gesellschaft, in der sie leben und die sie prägen, neu darüber verhandeln, welchen Stellenwert sie bei der Bewältigung imminenter Krisen und Konflikte ihres Zeitalters den Kataklysmen des 20. Jahrhunderts noch beimessen wollen. Der Zweite Weltkrieg und das verbrecherische Regime, das ihn vom Zaun gebrochen hat, wird im Jahre 2345 keine größere Bedeutung haben als der Dreißigjährige Krieg, als die Kriegsverbrechen von Tilly und Wallenstein für uns heute, vierhundert Jahre nach seinem Ausbruch.

Natürlich ist das noch lange kein Grund dafür, die Erinnerung an die Verbrechen und die Opfer dahinfahren zu lassen. Ebenso wie es alles andere als abwegig wäre, noch heute in Magdeburg Veranstaltungen zum Gedenken an die Gräueltaten von Tilly und Pappenheim abzuhalten. Aber – jeder kann sich selbst beim Fremdenverkehrsamt Magdeburg erkundigen – es gibt keine.

Ist das ein Akt der Respektlosigkeit gegenüber den unschuldigen Opfern, Frauen, Alten, Kindern, von damals? Oder schlichter Reflex dessen, dass auch ein kollektives Gedächtnis nicht anders funktioniert als das individuelle, in dem ein ständiger Verdrängungswettbewerb dafür sorgt, dass länger Zurückliegendes verblasst und in Vergessenheit gerät? Physiologische Prozesse halten sich nicht an moralische Gebote. Blickt man aus dieser Perspektive auf den von Reinhard diagnostizierten „Erinnerungszwang“, so wird er schon heute zu einem kleinen Anachronismus.

Die aktuelle politische Debatte hat sich diesen Befunden zu stellen. Sie muss klarstellen, dass alle Exekutivorgane sich der extremen Sonderrolle des bis heute als Kollektivschuld aller deutschen Staatsbürger aufgefassten Erbes des NS-Verbrecherstaates bewusst sind. Und des Paradoxons, das sie impliziert: dass ausgerechnet das kategorische Nein zu Tyrannei und staatlicher Willkür disponiert ist, in Konflikt mit dem Grundgesetz zu geraten, und dass dieser Konflikt in allen Zweifelsfällen zugunsten des Grundgesetzes entschieden werden muss. Im Klartext heißt das, dass Artikel 3, 4 und 5 des Grundgesetzes, die Meinungs-, Glaubens-, Gewissens- und Pressefreiheit garantieren, unterschiedslos für Anhänger aller Weltanschauungen gelten müssen, also auch, folgt man Reinhard, für Holocaust-Leugner.

Das Grundgesetz wendet sich entschieden dagegen, Menschen allein wegen ihrer Gesinnung Bürgerrechte abzusprechen. Und es hat dafür gute Gründe. Es gibt im Grundgesetz weder das Verbot, Lügen, Ammenmärchen oder Erich von Dänikens Lehre von den Göttern aus dem All Glauben zu schenken, noch ein Gebot, Anhänger einer naturwissenschaftlich widerlegbaren Lehre mit Sanktionen zum Abschwören zu zwingen. Das Grundgesetz sieht von einer objektiven Wahrheit ab, an die alle glauben müssen, weil das Postulat einer solchen immer eine Einladung an Totalitarismus ist, eine Falltür ins Mittelalter, als die Inquisition gewaltsam dafür sorgte, dass Ketzer auf Kurs gebracht werden.

In der aktuellen Debatte um KSK-, Bundeswehr- und Polizeiangehörige und deren „falsch“ angeklickte „Gefällt mir“-Buttons scheint das irgendwie aus dem Blick geraten zu sein. Mit allergrößter Dringlichkeit ist daher die Geltung von Artikel 33 GG einzufordern: „Die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder zu einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“

Deutlich ist aus dieser Formulierung die Frontstellung gegen die Nürnberger Gesetze, das „Reichsbürgergesetz“ sowie das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ zu ersehen. Auf eine einfache Formel gebracht: Das deutsche Grundgesetz möchte nie wieder erleben, dass Faschisten deutschen Bürgern ihre Grundrechte aberkennen, nur weil sie Juden sind. Aber es möchte auch nicht erleben, dass Juden deutschen Bürgern ihre Grundrechte aberkennen, nur weil sie Faschisten sind. Wem diese Vorstellung nicht behagt, der kann sich auf alles Mögliche berufen, aber nicht auf das Rechtsfundament unserer Demokratie.

Die in der deutschen Gedenkkultur verankerte Sonderverantwortung für die Verbrechen der NS-Zeit darf nicht missverstanden werden als Freibrief für einseitige politischer Demagogie, die letztlich zum Gegenteil dessen führt, wozu sie angeblich aufrufen möchte, nämlich zum Schutz von Freiheit und Demokratie. Und wenn Deutschlands Spitzenpolitiker eingesehen haben, dass sie zwar drillmäßig an das deutsche Volk appellieren können, die grauenhaften NS-Verbrechen – schon aus Gründen des Selbstschutzes – nicht aus dem Blick geraten zu lassen, aber niemanden dazu drängen, nötigen oder moralisch erpressen dürfen, dann wenden sie das Gelernte am besten auch gleich auf die aktuelle Pandemie-Lage an und sehen von Zwangsmaßnahmen ab.

www.conservo.wordpress.com     14.11.2020
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