Putins Werk und Deutschlands Beitrag

Presidential Executive Office of Russia

Michael van Laack

Seit Russland auf Befehl seines Präsidenten (den Kriegsverbrecher zu nennen sich viele scheuen, weil das ja noch nicht juristisch bewiesen sei oder ihn so verärgern könnte, dass er einen Atomschlag auf westliche Ziele befiehlt) die Ukraine überfallen hat, richten deutsche Medien den Blick ihrer Zuschauer und Leser auf die aus ihrer Sicht hoffentlich noch weit entfernte Zeitenwende, die Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag verkündet hat.

Der Blick zurück verändert nicht die Gegenwart

Denk ich an Russland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Das wird sich in der jüngeren Vergangenheit mancher deutsche Herrscher und Politiker gedacht haben, denn die Politik und das Auftreten des Russischen Reiches und später der Sowjetunion wurde in den Ländern des Westens oft als Bedrohung eigener wirtschaftlicher oder wirklich vitaler Interessen wahrgenommen.

Aus diesem Verständnis entwickelten sich mehrere – allerdings im Gegensatz zur heutigen – unangekündigte Zeitenwenden. So nach dem Bruch zwischen Kaiser Wilhelm II. mit Zar Nikolaus II. und dem folgenden Krieg zwischen den beiden Reichen im Rahmen des Ersten Weltkriegs. In der Zeit zwischen den beiden großen Kriegen blieb das Verhältnis des Westens zur kommunistischen Sowjetunion verständlicherweise äußerst frostig. Und so könnte man davon sprechen, dass die lange verzögerte Aufnahme dieses Riesenreiches in den Völkerbund im Jahre 1934 kurzeitig das Ende eines weder erklärten noch in der Öffentlichkeit wahrgenommenen „Kalten Krieges“ darstellte.

Zeitenwenden erklärt man nicht, sie entwickeln sich!

Eine kleine – den meisten Zeitgenossen ebenso verborgene Zeitenwende – stellte wohl auch der Hitler-/Stalin-Pakt dar, dem wenige Jahre später unausweichlich der als „Unternehmen Barbarossa“ verharmloste Überfall auf die Sowjetunion folgte. Nicht weil – wie manche Historiker zur Entschuldigung Hitlers anführen – der deutsch-österreichische Kriegsverbrecher damit einem in wenigen Monaten oder Jahren bevorstehenden Angriff Stalins zuvorkommen wollte, sondern weil sein Gebietsdurst groß war. Vermutlich nicht größer als Putins Gebietsdurst, aber in einer atomwaffenfreien Welt aufgekommen, in der sich Eroberungskriege noch „angenehmer“ führen ließen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (so glaubte man allgemein) wären auf viele Jahre alle mit sich selbst beschäftigt und die Schrecken des Krieges noch in so lebendiger Erinnerung, dass eine große Friedenszeit über die Welt kommen würde. Eine Rechnung, die zunächst auch weitgehend aufging. Allerdings nicht wegen des unbändigen Willens zum Frieden, sondern (nicht nur) aus Sicht der Großmächte fast ausschließlich wegen der Atombombe.

Die Zerstörung, die sie anrichten konnte, wirkte ernüchternd, sedierend und verängstigend zugleich. Dieser Waffe hat Westeuropa zu verdanken, dass bisher kein neuer großer Krieg zu uns gekommen ist. Diese Waffe hat am Ende, so paradox es scheinen mag, einen militärischen Konflikt zwischen den USA und der UdSSR um Kuba verhindert. Allerdings hat diese Waffe auch dazu beigetragen, die Diktaturen in der Sowjetunion, China, Nordkorea usw. am Leben zu erhalten. So kann man die Zeit der Abschreckung und des militärischen kalten Krieges (wirtschaftlich gab es nie einen wirklichen Krieg Deutschlands und anderer Westmächte mit der Sowjetunion) ebenfalls eine Zeitenwende nennen.

Helmut Schmidt, Neutralisierer der Zeitenwende Brandts

Jeder Kanzler seit Brandt steht auf seine ganz eigene Weise für eine kleinere oder größere Zeitenwende deutscher Ostpolitik. Als ich im 2. Schuljahr war (1972), erklärte unsere Grundschullehrerin beiläufig, dass wir viel beten müssten, denn Brandt und seine SPD wollten uns nach Russland verkaufen. Viele deutsche Bürger sahen das in dieser Zeit so, doch zumindest eine Mehrheit der Wähler nicht. Wäre Deutschland nicht ins NATO-Verteidigungsbündnis eingebunden und den alliierten Schutzmächten verpflichtet gewesen, hätte sich nicht als sichtbares Zeichen der im Osten herrschenden Unfreiheit die Mauer quer durch Berlin gezogen und die Sicherung des Wohlstands nicht von der Europäischen Gemeinschaft abgehangen… Wer weiß, auf welche Pfade uns die Elterngeneration der 68er geführt hätte.

Dennoch läutete Brandts Ostpolitik eine Zeitenwende ein. Eine Wende, die darauf abzielte, vorläufig den Status quo der beiden Blöcke NATO und Warschauer Pakt zu erhalten und gleichzeitig dem Sozialismus im Westen eine Chance zu geben, um die DDR und ihren großen Bruder Sowjetunion gnädiger zu stimmen.

Auf Brandt folgte Helmut Schmidt. Ein Realpolitiker, der das auf ideologischem Kunstdünger errichtete Konstrukt Brandts entmythologisierte und die Welt so sah, wie sie war, nicht wie sie sein sollte. Deshalb hat er (letztendlich auf Kosten des Endes seiner Karriere) den NATO-Doppelbeschluss mitgetragen und eine weitere Zeitenwende einläuten geholfen, welche die Intensivierung des real schon seit Jahrzehnten existierenden Kalten Kriegs bedeutete.

Der Fall der Mauer

Helmut Kohl haben wir keine Zeitenwende zu verdanken. Er war lediglich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz und hat dank des Strategen Hans-Dietrich Genscher und dem gutmütigen (im positiven Sinn naiven) Michail Gorbatschow die deutsche Einheit erfolgreich verhandelt.

Der Westen ist gut, der Osten war früher böse und ist nun auf dem besten Weg zur Angleichung an der Westen. So sahen es die meisten Bürger Europas und so sah es auch Helmut Kohl. Der Fall der Mauer, dem die demokratische Revolution in der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Pakts sowohl vorausging als auch nachfolgte. hat ihn 1989 strategisch überrascht, aber nicht – wie z. B. Willy Brandt und seine SPD – auf dem falschen Fuß erwischt.

Euphorie vernebelt Realitätssinn

Wie die Vielen mit und nach ihm glaubte Kohl jedoch, der Kommunismus sei ein für alle Mal besiegt, Deutschland nun ein „einig Vaterland“, die EU auf dem besten Weg zu einer Institution, die Una Voce sprechend Freiheit und Demokratie nach westlichem Modell in die noch im Dunkel von Diktaturen liegenden Staaten tragen werde. Wie jeweils die europäischen Politiker nach den beiden Weltkriegen glaubte auch er fest daran, dass bald eine neue und stabile Friedensordnung kommen werde, in der Angst vor dem Nachbarn der Vergangenheit angehöre und die Unterdrückung des eigenen Volkes ebenso wie jene fremder Staaten verunmöglicht würde.

Rückblickend wissen wir: Der Fall der Mauer hat die Saat des Atheismus und Sozialismus im ganzen Land ausgestreut. Deutschland 1990 und Deutschland 2022 sind zwei diametrale Gebilde, gleich nur in den Landesgrenzen. Wobei auch diese immer mehr an Sichtbarkeit verlieren.

Schröder, der Vollstrecker der Ostpolitik Brandts im Gewand der freien Marktwirtschaft

„Handelsbeziehungen sichern unsere Freiheit und unseren Wohlstand und tragen unsere Werte in die Länder des Ostens.“ Ob Schröder von dieser in vielen EU-Staaten vertretenen Sichtweise tatsächlich überzeugt war oder ob für ihn das „Money, Money, Money“ des Scientology-Gründers Ron Hubbard schon zu Zeiten als Bundeskanzler sein Leitmotiv war, lässt sich noch nicht abschließend bewerten. Sicher ist, dass er aus seiner Abneigung gegen die USA nur selten einen Hehl machte und Wladimir Putin als stabilen Partner betrachte.

Trotz der bereits in Schröders Regierungsjahren erkennbaren Entwicklung des russischen Präsidenten vom (Pseudo-)-Demokraten zu einem Dugin verehrenden nationalistischen Alleinheerscher und trotz Putins für alle Welt sichtbare brutale Kriegsführung in mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken forcierte dieser Kanzler die als Wohlstandssicherung getarnte Abhängigkeit von Russland. Nicht nur bei den fossilen Energieträgern Öl, Gas und Kohle, sondern auch bei seltenen Erden. Mit der anderen großen Diktatur China fremdelte er noch ein wenig. Diese Hemmungen ließ dann eine andere fallen. Jene Frau, deren Politik für unser Vaterland auf nahezu allen politischen Feldern verheerend war: Angela Merkel.

Merkels Programm: Zeitenwenden am Fließband

Die wirtschaftliche und außenpolitische Lage, in der wir Deutschland in diesen Tagen sehen, haben nicht Scholz (auch wenn er unter Merkel Minister war), nicht Habeck, Baerbock, Lambrecht oder Faeser zu verantworten, sondern Merkel und die Unionsparteien, welche die rotgrüne Kanzlerin im schwarzen Gewand 16 Jahre gewähren ließen, sie beinahe schon als sakrosankte Lichtgestalt verehrten.

Die „Rettung“ des Euro und Griechenlands; die Abschaffung der Atomkraft; die Verschärfung der Abhängigkeit von Russland; die Migrationskrise; die Förderung des (radikalen) Feminismus und des Gender Mainstream; die Nullzinspolitik der EZB; die Instrumentalisierung deutscher Bundesgerichtshöfe und des Verfassungsschutzes; das Installieren einer EU-Kommissionspräsidentin, die vom Volk ins EU-Parlament gewählt wurde, weil sie überhaupt nicht zur Wahl stand; die Coronakrise; der Umgang mit der parlamentarischen Opposition rechts von der durch sie nach links verschobenen Mitte…

In einem Satz: die Spaltung der Gesellschaft, die maßlose Verschuldungsbereitschaft, die Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung. All das haben wir Merkel zu verdanken. Geschehen auf ihre Veranlassung oder mit ihrer (stillschweigenden) Duldung. Zeitenwenden am Fließband hat die „letzte Verteidigerin der freien Welt“ geschaffen. Ohne Ankündigung, ohne kritische journalistische oder sonstige mediale Begleitung. Und deshalb unbemerkt von der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Scholz ist Opfer und Täter zugleich

Und nun Olaf Scholz, gefangen in einer Koalition, die sich zusammenfand, obwohl sie nicht zusammengehört. Olaf Scholz, ein Bundeskanzler ohne Hausmacht, dessen eigene Partei es nur deshalb mehrheitlich nicht wagt, sich auf die Seite Putins zu stellen, oder ihn zumindest stillschweigend gewähren zu lassen, weil die ehemaligen Westalliierten diesen Kurs nicht mittragen und auch die Länder des Ostens (die Deutschlands Russlandpolitik schon seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr goutieren), öffentlich Kritik üben.

Scholz weiß genau: Wollen wir als Deutschland auch in der Zukunft mit dem Export unserer Güter den „Wohlstand sichern“, müssen wir jetzt zumindest so tun, als stünden wir vollkommen hinter der Ukraine und damit gegen Putin. – Am einfachsten lässt sich Deutschlands Gunst mit Geld zeigen. Das hat die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten immer getan. Doch in dieser Krise reicht es nicht mehr, ein Blitz-Giro durchzuführen. Rasche materielle Unterstützung ist angezeigt.

Von dem, was Deutschland leisten könnte, tut es nur die Hälfte

Das kann die unter Merkel vollends kaputtgesparte Bundeswehr kaum leisten, doch es gibt zahlreiche Unternehmen, denen es möglich wäre. Deutschland ist bekanntlich nicht durch einen statistischen Fehler auf Platz 4 der Liste der Exporteure schwerer Waffen weltweit gelandet. Aber dieser Möglichkeit steht die (gestern von Putin im Gespräch mit Macron und Scholz noch einmal wiederholte) Drohung von ungeahnten Konsequenzen im Falle direkter Waffenlieferungen im Wege. Solche „Konsequenzen“ könnten ein sofortiger Gas-Stop oder gar eine militärische Konfrontation sein. In seinen Träumen sieht der kleine Feigling Scholz schon Atompilze über Berlin und Köln aufsteigen. Oder Millionen Kältetote im Winter. Deshalb trickst und verzögert der Bundeskanzler wichtige materielle Hilfe; schickt nur das, von dem er glaubt (oder weiß), dass es Putin nicht verärgern wird.

Das Prinzip der Abschreckung existiert in den Planspielen der Bundesregierung nicht mehr. Denn Putin sei unberechenbar, wie er ja schon seit Jahrzehnten (später SPD-Erkenntnis) gezeigt habe. Man dürfe ihn nicht unnötig provozieren. Doch was bedeutet das in letzter Konsequenz?

Um ein absurdes Beispiel zu nennen: Putin würde morgen in einer Pressekonferenz sagen, „McDonalds hat sich aus Russland zurückgezogen, deshalb verlange ich, dass die deutsche Regierung morgen zum Ausgleich alle McDonalds-Läden schließt. Sonst drehe ich den Gashahn sofort zu!“ – Wie würde die Bundesregierung reagieren? Wir wissen es nicht, aber wir können es erahnen.

Deutschlands Beitrag ist Geschichtsvergessenheit

Und „schon“ sind wir wieder bei der Überschrift dieses Artikels. Deutschland hat mit seiner Russlandpolitik in den vergangenen 25 Jahren maßgeblich dazu beigetragen, dass Putin sein Werk beginnen und bisher ungestört fortsetzen konnte. Nun scheint die Bundesregierung auch gewillt, ihn das Werk vollenden zu lassen. Durch Aufweichen oder Umgehen von mit großem Tam Tam verkündeten Sanktionspaketen; durch Taktieren bei Waffenlieferungen; durch die Verunsicherung der bundesdeutschen Öffentlichkeit (Schüren von Eskalationsängsten); last but not least durch redundante Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand, der die Ukraine zwingen würde, große Gebiete ihres Staates abzutreten. Deutschlands Beitrag zu Putins Werk: Lavieren, verzögern, Versprechen brechen, Putins Gesichtsverlust minimieren.

Ich schäme mich nicht, Deutscher zu sein. Doch ich schäme mich für unsere Regierung, die „Nie wieder!“ augenscheinlich schon lange nicht mehr so versteht, wie sie uns Bürgern immer noch glauben machen will!

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