Energiekrise und Klimawandel: Vom Ende des Schlaraffenlandes Bundesrepublik Deutschland

Michael van Laack

Nein, nicht jeder Bürger lebt im Wohlstand oder gar in Saus und Braus. Verhungern allerdings muss bei uns niemand, auch wenn es immer wieder anderslautende populistische Töne gibt. Und ja: die materiellen Güter sind ungerecht verteilt. Die einen leben von Sozialhilfe während andere sich jeden Tag drei Elektroautos der Oberklasse kaufen könnten, ohne dass ihr Vermögenspürbar verringert würde.

Mir geht es im Folgenden hauptsächlich um die 65 oder vielleicht mehr Millionen Bürger dazwischen. Jene, die nichts anderes kennen als einen gut gefüllten Bauch und materielle Sicherheit; es geht mir um jene, die glauben, sie hätten ein Recht darauf, dass es für sie und ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel bis ans Lebensende immer so weiterginge mit einem Leben zwischen gesicherter Berufstätigkeit, Theaterbesuch und Fitnessurlaub. Zugegeben das liest sich bis hierhin alles sehr plakativ.

Keine für die Grünen und andere Sozialisten gebrochene Lanze

Auch will ich hier keineswegs den Grünen das Wort reden, für die Klimawandel lediglich ein Schlüsselbegriff ist wie für Hitler die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, um die Macht zu erlangen und ihre politische Religion in jeden Kopf zu pflanzen.

Was ich mit diesem Artikel aber sehr wohl erreichen möchte ist das Nachdenken darüber, ob wir wirklich ein Recht auf Konsum zu jeder Zeit und an jedem Ort haben und dem Staat bzw. der Wirtschaft die Pflicht obliegt, sämtliche unsere bestehenden Bedürfnisse zu decken und jederzeit bereit zu sein, neu entstehende Bedürfnisse dauerhaft zu befriedigen – ob wir es also tatsächlich schon als Wohlstandsverlust begreifen sollten, wenn uns das ein oder andere Produkt nicht im Übermaß zur Verfügung steht.

Ein unerreichbares Land?

Wer kennt es nicht, das Märchen vom Schlaraffenland, dass sich in der Sammlung Ludwig Bechsteins findet, vielen Kindern unzählige Mal vorgelesen und oft (zuletzt 2016 von der ARD) verfilmt wurde. In jedem Märchen findet sich – mal offensichtlich, mal im Subtext – eine Botschaft, etwas moralisch-moralisierendes. So auch in der Erzählung über das Schlaraffenland, oder wie es Welsch (Romanisch) heißt: Cucagna.

Bechsteins Erzählung beginnt mit einem Hinweis darauf, dass dieses Land ein unerreichbares sei. Niemand wisse, wo es liege, sonst würde wohl ein jeder dahin auswandern. Nun, Bechstein kannte die Industriestaaten des Westens und des asiatischen Ostens selbstverständlich noch nicht. Wäre er ein unter uns Lebender, fiele der Text wohl eher unter die Kategorie „Kapitalismus- und Konsumkritik“; ein Leitartikel für die Kulturseiten der „taz“ oder der „Zeit“; von den meisten schon nach wenigen Wochen wieder vergessen, nachdem sich bestenfalls die Wirtschaftsredaktionen anderer Häuser augenzwinkernd an ihm abgearbeitet hätten.

Heute freilich glauben viele Menschen zu wissen, wo das Schlaraffenland oder gar die Schlaraffen-Kontinente liegen: Europa und die USA hat man als solche identifiziert, weshalb manch einer („manch eine“ seltener) gern dorthin „flüchtet“. Aber nein, mein Thema soll heute nicht Migration sein, sondern der Klimawandel-Wandel.

Eierfladen an Türen und Wänden, Schweinebraten an den Balken

Klingt gut, oder? Vor allem klingt es nach: Alle werden satt! Auch wenn es zweifellos nicht der Lebenswirklichkeit aller Bürger der Schlaraffenkontinente entspricht, dass sie sich über das notwendige Maß mit Essen und Trinken versorgen, sich besaufen und mästen können, so gilt tatsächlich: Niemand muss bei uns verhungern, auch wenn er mittellos ist.

Dennoch wird viel gejammert. Manchmal zurecht, manchmal nicht. Da ist vom notwendigen Lebensstandard die Rede (der freilich undefiniert bleibt), den aber jeder zu haben hat: über das Essen hinaus Recht auf „angemessene“ Kleidung, auf Beteiligung am sozialen (kulturellen) Leben, freien Zugang zu den Kommunikationsmitteln. Manche behaupten gar, ohne Auto führe man ein menschenunwürdiges Leben. Ebenso sei unterprivilegiert, wer nicht in Urlaub fahren oder sich SKY und sonstige zusätzliche TV-Sender leisten könne. Lebensqualität definiert sich immer mehr über Konsumgüter-Beschaffungsfähigkeit: die Möglichkeit, Geld zur Befriedigung diverser über das Lebensnotwendiges hinausgehende Bedürfnisse zur Verfügung zu haben.

Was man bei uns für einen Dukaten kauft, kostet dort nur einen Pfennig

Luxus ist teuer, will Bechstein damit sagen. Wie gemein! Überflüssiges, über den Bedarf, über das Lebensnotwendige Hinausgehendes kostet im Vergleich zu diesen Gütern mehr Geld, nur die Reichen können es sich leisten. Der Autor mag dabei edle Weine, aufwendige Kleiderstoffe, Parfum oder Gewürze im Blick gehabt haben neben den Produkten, die er im mit dem Preisvergleich eingeleiteten Abschnitt beschreibt.

„Geiz ist geil“ heißt es heute und: „Gutes muss nicht teuer sein!“ – Unter diesen Überschriften verlangt der Konsument – man ist schon versucht zu schreiben: Er glaubt, ein Recht darauf zu haben – hohe Qualität, Riesenauswahl und rasche Verfügbarkeit zum kleinen Preis. Die Technik macht es möglich. Industriell kann heute unseren Standards entsprechende qualitativ mittelwertige Bekleidung hergestellt werden, die sich im 19. Jahrhundert nur die Oberschicht leisten konnte. Alkoholika aus allen Teilen der Welt, exotische Früchte, Handys und PCs aus Nordamerika oder Südkorea: Alles ist zu einem Preis auf dem Markt, den sich der Durchschnittsverdiener leisten kann.

Alles, was man haben kann, möchte man auch haben: Man möchte es geschmeckt, gerochen, getragen und benutzt haben. Denn das Leben ist kurz (zumindest für jene, die nicht an ein Leben nach dem Tod glauben). Deshalb sind viele permanent von dem Unbehagen erfüllt, sie könnten etwas verpassen, etwas nicht erlebt, gesehen, gespürt oder verwendet haben. Jedes kleine Glück vor dem biologischen Tod muss man mitnehmen. Koste es, was es wolle… Ach nein, so teuer ist schlaraffenland-ähnlicher Konsum heute ja gar nicht mehr!

Gebratene Vögel in der Luft, Fische springen aus dem Wasser in die Pfanne

Richtig so, warum auch noch selbst kochen? Die Zeit kann effektiver genutzt werden. Entweder (falls man berufstätig ist) um das Geld zu verdienen, damit man sich Fertigprodukte oder (je nach Einkommen) regelmäßige (Fast Food)-Restaurantbesuche leisten kann oder – um mehr Zeit zu haben: So kann man mit der Familie bzw. am besten für sich allein andere Dinge konsumieren. Sei es die TV-Soap bei RTL, das Casino-Spiel im Internet oder auch mal ein gutes Buch auf dem Tablet. – Zudem: Zumindest was die Fertigprodukte betrifft: „So preiswert kann man das doch selbst gar nicht kochen!“, lautet ein gern genommenes Argument.

Käse, Fleisch, Kleider – alles in größter Auswahl

Man stelle sich vor, man stehe in einem Lebensmittelgeschäft vor der Tiefkühltheke und es stünden dort statt 50 nur fünf verschiedene Sorten Pizza zur Auswahl; oder an der Käsetheke sieben statt siebzig Sorten; für Veganer keine 100 Sorten vegane Wurstprodukte; im Bekleidungsgeschäft nur Kleider in fünf Schnitten und zehn Farben statt der viel gepriesenen unendlichen Vielfalt; PKWs gäbe es nicht mit 300 Auswahlmöglichkeiten für die Sonderausstattung, in vierzig Lackschattierungen und mit sieben verschiedenen Motor-Varianten.

DAS WÄRE UNMÖGLICH, denn dann könnte man sich ja nicht mehr frei entscheiden. Folglich ginge Individualität verloren oder besser: Der uniformierte Massenmensch hätte eine seiner wenigen Möglichkeiten verloren, sich vom Mit-Individuum zu unterscheiden, da er ansonsten nichts weiter ist als ein Mikrogramm der Millionen Tonnen schweren Konsumentenmasse.

Ein funktionierendes Rädchen im Getriebe der Weltgemeinschaft (besser Weltwirtschaft). Als Säugling mit feinster Baby-Spezialnahrung aufgepäppelt, die wenigen Jahrzehnte seines armseligen „Erwachsenen“-Lebens umgeben von ihn scheinbar aufwertenden direkt konsumierbaren Artikeln oder Objekten, um am Ende seine Asche in die edle Marmorurne füllen zu lassen; selbstverständlich Marmor mit ganz außergewöhnlichen Farbgesteinsadern, die er sich zu Lebzeiten aus Nordafrika hat einfliegen lassen, um noch vor dem Tod das gute Gefühl zu haben, am Tag der Urnenbeisetzung bestaunt zu werden. Und wenn es das letzte Ersparte gekostet haben sollte.

Alte Frauen kann man auf dem Markt gegen junge eintauschen

Immer jung zu sein, sportlich, fit. Keine Schwächen haben oder zumindest nicht zeigen. Makellosigkeit ist das Gebot unserer Dekaden. Was „schön“ ist, definiert der Markt.

Was du zu tun hast, um nach dieser Definition schön zu sein (und somit klug und erfolgreich in den Augen Deiner neidischen Mitkonsumenten)? Nun: kaufe zahlreiche Produkte auf chemischer oder „natürlicher“ Basis, um Deine Haut zu straffen, kaufe Sportgeräte und Fitnessdrinks. Tanke Energie! Der Konsum all dieser Güter und Aktivitäten lässt Dich vergessen, dass Du mit jedem Tag, an dem Du aufwachst, einen Tag näher an der Marmorurne im strahlendjugendlichen Weiß mit den hübschen bunten Gesteinsadern bist.

„Sex sells“ selbstverständlich auch: nicht nur die Pornoindustrie mit Filmen zu allen möglichen und vielen auch (un)möglichen Spielarten des Kopulierens ohne Zeugung; nicht nur die vielen „Spielzeuge“; nicht nur die zahlreiche Literatur für den erfolgreicheren Stellungskrieg.

Es geht um mehr. Wer kann, der kann. Wer kann, ist potent! Wer potent ist, ist stark, bleibt jung! Jung ist schön, schön ist klug… Eine unendliche Kette: Der Konsum der Gefühle hier kombiniert mit dem Konsum der ihn unterstützenden Ge- und Verbrauchsgüter.

Wer das Schlaraffenland verlassen will, muss die dicke Reisbrei-Mauer durchfressen

Was der DDR der antikapitalistische Schutzwall war, ist den heutigen der virtuelle konsumistische Schutzwall. Wer sich nicht unterwirft, wer nicht mitzieht oder mitziehen kann beim „Mein Konto, mein Auto, mein Haus“-Spiel in der ihn umgebenden soziologischen Schicht… der wird ausgeschlossen, gemieden, gehört halt nicht dazu. „KANN es sich nicht leisten!“, heißt es. Die Frage nach dem Wollen stellen sie sich nicht, die Frage nach der Stumpfheit und Nutzlosigkeit des eigenen Konsums stellen sie sich schon mal gar nicht.

Wer also ausbrechen will aus Cucagna, der muss sich durch eine dicke Mauer fressen von gesellschaftlichen Zwängen und Vorurteile, muss sich immer bewusst sein, dass er mit jedem weiteren Biss durch diese Mauer immer einsamer wird. Die Furcht vor der Einsamkeit (dem nicht dazu gehören) ist es, die nahezu jeden mitmachen lässt, den einen mehr, den anderen weniger. Letztendlich aber machen fast alle mit, die es sich leisten können.

*****

Sie lesen gern die Debattenbeiträge, Analysen, Satiren und andere Inhalte,

die wir Ihnen auf conservo bieten?

Dann können Sie unser Engagement hier unterstützen:

PayPal