Sultan Erdogans Thron wackelt, doch seine Speere treffen noch!

Peter Helmes

Die Wahlen in der Türkei sind knapp ausgegangen, zudem sind sie noch nicht zu Ende. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen kommt Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan auf 49,4 Prozent der Stimmen, wie der Hohe Wahlausschuss (YSK) am Montag (15.5.) in Ankara bekannt gab.

Dessen Herausforderer von der oppositionellen kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, erreichte 44,9 Prozent. Sinan Oğan, der dritte Bewerber um das Amt des Staatsoberhaupts, erhielt 5,3 Prozent der Stimmen. In Umfragen vor der Wahl hatte Kılıçdaroğlu noch vor Erdoğan gelegen.

Ein Ultranationalist ist das Zünglein an der Waage

Insgesamt waren 64 Millionen Menschen – von rund 85 Millionen Einwohnern der Türkei – zur Stimmabgabe aufgerufen. Davon nahmen rund 88,9 Prozent an den Wahlen teil. Bereits vor dem 14. Mai konnten die rund 3,4 Millionen im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger wählen, darunter waren 1,5 Millionen Menschen in Deutschland. Die Wahlen sollten eigentlich im Juni stattfinden, doch Erdoğan hatte sie per Dekret auf den 14. Mai vorgezogen.

Weil kein Kandidat eine absolute Mehrheit erreichte, können die Stimmberechtigten am 28. Mai in der Stichwahl über die beiden Bestplatzierten abstimmen. Dann reicht eine einfache Mehrheit, weshalb es entscheidend sein dürfte, für wen sich Oğan ausspricht. Es wird davon ausgegangen, daß der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, der für ein nationalistisches Bündnis antrat, sich auf die Seite Erdoğans schlagen wird.

Das von der islamisch-nationalistischen AKP, Erdogans Partei, mit anderen Parteien – darunter die extrem rechte MHP – geschlossene Bündnis würde auf rund 49 Prozent der Stimmen kommen, wobei 35 Prozent auf die AKP entfielen. Damit würde die Partei 266 Abgeordnete in der 600 Sitze umfassenden Großen Nationalversammlung erhalten.

Gegen Erdogans AKP ist ohne Wahlbündnisse kein Blumentopf zu gewinnen

Das oppositionelle Millet-Bündnis um die Republikanische Volkspartei (CHP) erhielt rund 35 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die linksgrüne Allianz für Arbeit und Freiheit würde knapp mehr als zehn Prozent erhalten. In dieser ist auch die Demokratische Partei der Völker (HDP), die in den kurdisch bewohnten Gebieten im Südosten der Türkei erfolgreich ist. Weil in der Türkei eine Sperrklausel in Höhe von sieben Prozent (zuvor waren es sogar zehn Prozent) gilt, schließen sich Parteien zu Wahlbündnissen zusammen.

Die sechs Parteien sind ideologisch unterschiedlich, gemeinsamer Nenner ist die Gegnerschaft zu Erdogan. Für den Fall eines Sieges hat sich die Allianz zwar vorbereitet und Zuständigkeiten geklärt. Doch damit die Zusammenarbeit weiter funktioniert, muß der Schulterschluß beibehalten werden.

Und das ist nicht das Einzige: Die prokurdische HDP ist kein Teil der Allianz, die meisten Parteien behandeln die HDP und somit auch ihre Wähler als Anomalität. Ein würdiger Umgang mit ihr muß gefunden werden. Das ist bisher weder der Regierung noch der Opposition gelungen.

Stürzen die Kurden den Sultan vom Thron?

Einst war Erdogan in den kurdischen Gebieten recht beliebt – heute ist er das nicht mehr. Unterdessen könnte der Ausgang der Präsidentschaftswahl von den kurdischen Wählern abhängen. Ihre Zahl im Land ist groß – die Kurden sind die größte nationale Minderheit und machen 22 Prozent der Bevölkerung aus.

Es ist kein Geheimnis, wen die Europäer und die USA als Sieger bevorzugen: Sie alle wären froh, wenn Erdogan an den Urnen verlöre. Dafür gibt es viele Gründe. Man würde es begrüßen, in der Türkei einen NATO-Partner zu haben, der die Aufnahme Schwedens nicht länger blockiert, sich nicht in militärische Abenteuer in Syrien stürzt und die Sanktionen gegen Russland mitträgt.

Alle Erdogan-Gegner eint ein Wunsch: Daß die Türkei ein Land wäre, in dem Oppositionelle nicht verfolgt werden, in dem die Meinungsfreiheit respektiert wird und das endlich zu einer vollständigen Demokratie wird. Eine Niederlage Erdogans wäre außerdem ein Schlag für den Populismus und den Mythos vom starken Mann. Kılıçdaroğlu hat versprochen, die Beziehungen zum Westen und vor allem zu Europa verbessern zu wollen. Aber der Teufel steckt im Detail. Auch Kılıçdaroğlu hat nicht vor, die Politik gegenüber Griechenland und Zypern zu ändern, und er will das Flüchtlingsabkommen von 2016 auf den Prüfstand stellen.

Erdogans autoritäres Politikverständnis provoziert Kritik  

Kritiker werfen dem AKP-Chef immer wieder vor, autoritär zu regieren. Inzwischen hat der 69-Jährige nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die Verwaltung und den Staatsapparat, darunter Justiz, Militär und Polizei, in seine Hand gebracht, wichtige Posten wurden mit Vertrauten besetzt. Tausende politische Gegner wurden inhaftiert oder mußten das Land verlassen; Proteste wie 2013 wurden gewaltsam niedergeschlagen. Außerdem führt das NATO-Land Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, dabei greift die Armee völkerrechtswidrig Ziele in den Nachbarländern Syrien und Irak an.

Die AKP und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan stehen auch sonst immer wieder in der Kritik. Die Hilfe für die Erdbebenopfer erreichte erst spät die Menschen in den zerstörten Orten. Neben dem Krisenmanagement wird auch die unzureichende Einhaltung und Überwachung des Erdbebenschutzes etwa bei neu errichteten Gebäuden kritisiert.

Schon vor dem Beben befand sich die Türkei in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Dazu gehört die sehr hohe Inflation. Nach einem Höchststand von fast 80 Prozent im vergangenen November lag sie laut der staatlichen Statistikbehörde TÜIK im April immer noch bei rund 44 Prozent. Ökonomen sehen die Realinflation sogar bei mehr als 100 Prozent. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, viele junge Menschen sehen keine Perspektiven.

Außerdem sind viele Geflüchtete in der Türkei untergekommen, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Aktuell sind es nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 3,6 Millionen Vertriebene des Kriegs in Syrien sowie knapp 320.000 Schutzsuchende aus anderen Ländern, hauptsächlich aus Afghanistan und dem Irak.

Freie Presse unverzichtbar

Bereits im Vorfeld wurde kritisiert, daß im Wahlkampf die AKP und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in den meisten Medien mehr Raum gegeben wurde als seinen Kontrahenten.  Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu hatte massiv versucht zu manipulieren.

Das macht deutlich, wie wichtig es ist, daß alle Medien frei sind. Und das geht nur mit der Abwahl dieser Regierung. Zu dieser Stunde ist es schwer zu sagen, wie die jetzt notwendig gewordene Stichwahl ausgehen wird. Doch der Wille des Wählers ist unverkennbar, das Ein-Mann-Regime abzuwählen. Das ist das wichtigste Ergebnis dieser Wahl. Entscheidend wird zudem sein, ob der jeweils unterlegene Kandidat bei der Wahl zum Präsidenten seine Niederlage anerkennen wird. Das wird noch spannend.

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