Lebenserwartung: Führt Corona an die Grenzen des Wachstums?

(www.conservo.wordpress.com)

Von iDAF *)

Vorlektüre:

Zitat des Monats des Monats, 2020/6: „Zentralstaatliche Gesundheits- und Impfkampagnen“

„Das Muster einer immer wieder durch Epidemien und Hungerseuchen dezimierten Bevölkerung begann sich in Europa erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts allmählich zu ändern. Das Ende der tödlichen Pestwellen war ein wichtiger Schritt. 1720 wurde die letzte europäische Pestepidemie verzeichnet, die dank Quarantänemaßnahmen nur bis Marseille und Umgebung vordrang. … Ab dem 18. Jahrhundert gelang es zudem allmählich auch, die Ausbreitung von Seuchen und Hungersnöten einzudämmen. Dafür war auch der Aufbau absolutistischer Staatswesen verantwortlich. …

Ab Ende des 18. Jahrhunderts wandelten sich allmählich auch die Einstellungen zu Krankheit und Tod. An Stelle einer fatalistischen und passiven Hinnahme traten im Rahmen eines aufklärerischen Fortschrittsglaubens aktivistische Einstellungen zur Krankheitsbekämpfung. In manchen Ländern Europas wurden schon im 19. Jahrhundert durchaus aggressive gesundheitspolitische Propagandafeldzüge betrieben, die vielfach in massiven zentralstaatlichen Gesundheits- und Impfkampagnen mündeten.“

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Quelle: François Höpflinger: „Zur langfristigen Entwicklung der Lebenserwartung in der Schweiz – Studientext und historisches Datendossier zur Lebenserwartung in früheren Jahrhunderten“
* (iDAF-Zitat des Monats, 2020/6: http://www.hoepflinger.com/fhtop/Lebenserwartung-historisch1.pdf.)

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(Zu iDAF siehe Ende des folgenden Artikels:)

Lebenserwartung: Führt Corona an die Grenzen des Wachstums? 

Wohl noch nie in Friedenszeiten waren Sterbefallstatistiken politisch so brisant wie in der Corona-Krise. Insbesondere für die Beurteilung der Lockdown-Maßnahmen spielen sie eine Schüsselrolle. Im Fokus steht die sog. Übersterblichkeit oder Exzess-Mortalität, die eine, im Vergleich zu Erfahrungswerten, erhöhte Sterberate bezeichnet.

Mit Hilfe dieser demografischen Maßzahl werden Auffälligkeiten der Sterblichkeitsentwicklung im Zeitverlauf erfasst, z. B. die Auswirkungen von Grippewellen. In der Corona-Krise wurde oft auf die Grippewelle 2017/18 verwiesen, der 25.000 Todesfälle zugeschrieben werden (1). Tatsächlich handelt es sich bei den 25.000 Todesfällen um eine retrospektive Schätzung für eine gesamte Saison. Eine vergleichbare, abschließende Zahl gibt es für die Covid-19-Pandemie nicht, weil die Infektionswelle andauert.

Fest steht, dass in deutschen Laboren im Winter 2017/18 rund 1.700 Influenza-Todesfälle und bis dato (Ende Juli) rund 9.000 Covid-19-Todesfälle vorliegen. Das ist eine relativ geringe Zahl im Vergleich zu den Todeszahlen anderer westlicher Länder, gerade der unmittelbaren Nachbarländer im Westen. Nach OECD-Berechnungen verzeichnet Deutschland auf 1 Million Einwohner 109, die Niederlande dagegen 358 und Frankreich sogar 462 an Covid-19 Verstorbene (2). In Frankreich und den Niederlanden zeigt sich ein scharfer Anstieg der Übersterblichkeit im Frühjahr, der ähnlich ausgeprägt ist wie in Italien. Noch härter traf es in Europa Belgien, Spanien und Großbritannien. Dies lässt sich mittlerweile klar feststellen, sowohl in Bezug auf die laborbestätigten Covid-19-Sterbefälle als auch auf die Übersterblichkeit (3).

Bisher geht eine höhere Zahl von Covid-19-Sterbefällen eindeutig mit einer höheren Sterblichkeit einher. Dies gilt auch für Schweden, das Kritikern des „Lockdown“ als Vorbild gilt. Diese Kritiker argumentieren, dass Lockdown-Maßnahmen eine Wirtschaftskrise hervorrufen würden, die längerfristig für die Gesundheit und für die Lebenserwartung der Menschen noch schlimmere Auswirkungen hätte als die Pandemie selbst (4). Das ist eine Annahme, die sich erst retrospektiv falsifizieren lässt. Dafür braucht es neue Daten zur Lebenserwartung, die frühestens in ein bis zwei Jahren vorliegen werden.

Die Lebenserwartung wird der härteste Indikator für den Erfolg oder Misserfolg der Pandemiebekämpfung sein. Die Daten hierzu dürften brisant werden, insbesondere für die Vereinigten Staaten, die seit Monaten Brennpunkt der Pandemie sind. Hier lag die Übersterblichkeit zwischen März und Mai um annähernd 30% über den offiziell gemeldeten Fällen an COVID-19-Verstorbener. Dafür scheint ein ganzes Bündel von Ursachen verantwortlich zu sein, besonders Herzerkrankungen, Schlaganfälle und Diabetes. Hier können sowohl der Lockdown wie auch die (lokale) Überlastung des Gesundheitswesens in der Pandemie Defizite in der Gesundheitsversorgung verschärft haben, unter denen in den USA ohnehin schon breite Schichten zu leiden haben. Auffällig gestiegen ist auch die Zahl der an Morbus Alzheimer Verstorbenen. Hier lässt sich vermuten, dass in Pflegeheimen viele Menschen an COVID-19 gestorben sind, bei denen nicht auf SARS-CoV-2 getestet wurde und deshalb der Nachweis fehlt (5).

Angesichts der aktuell verschärften Krise vor allem im Süden der USA sind für die nähere Zukunft weitere Hiobsnachrichten zu befürchten. Dabei war die Gesundheitslage in den USA schon vor der Corona-Krise besorgniserregend: Aufgrund verschiedener Ursachen, nicht nur der Drogen-  bzw. Opioidkrise, sondern auch zunehmender Herz-Kreislauferkrankungen, entwickelt sich die Lebenserwartung in den USA schon länger auffallend schwach. Zuletzt ging sie sogar zurück: Von 78.8 Jahre in 2014 auf 78,5 Jahre in 2019 (6). Die Lebenserwartung der Amerikaner ist damit weit niedriger als die von Japanern (84 Jahre), Italienern (83 Jahre), Schweden und Franzosen (rund 82 Jahre) oder auch Deutschen (rund 81 Jahre). Allerdings hat sich die Lebenserwartung auch hier in Europa, wenn auch auf höherem Niveau, zuletzt schwach entwickelt. Es gibt Tendenzen zur Stagnation, die historisch bemerkenswert sind. Denn über viele Jahrzehnte war die Lebenserwartung stetig, jedes Jahr um etwa drei Monate gestiegen. Sollte die Lebenserwartung infolge der Corona-Pandemie nicht nur stagnieren, sondern sogar zurückgehen, wäre dies ein tiefer historischer Einschnitt.

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(1) https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2018.pdf

(2) In Belgien liegt die Zahl noch weitaus höher (845), was allerdings mit einer anderen Erfassung von Verstorbenen (in Altenheimen) im Zusammenhang zu sehen ist. Siehe: https://blogs.otago.ac.nz/pubhealthexpert/2020/07/22/nzs-team-of-5-million-has-achieved-the-lowest-covid-19-death-rate-in-the-oecd-but-there-are-still-gaps-in-our-pandemic-response/

(3) Siehe ebenda sowie: https://www.euromomo.eu/graphs-and-maps/ . Dies bestätigen auch die jüngsten Eurostat-Daten: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Weekly_death_statistics#Dramatic_rise_in_deaths_in_early_spring

(4) Exemplarisch hierfür ist etwa die Lockdownkritik von Ökonomen wie Bernd Ruffelhüschen: https://paz.de/artikel/wir-haben-unverhaeltnismaeszig-gehandelt-a1209.html. Kritisch hierzu: https://www.versicherungsbote.de/id/4894410/Raffelhueschen-Corona-Lockdown/

(5) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/114349/USA-Uebersterblichkeit-uebertrifft-die-Zahl-der-gemeldeten-Todesfaelle-an-COVID-19

(6) https://www.aerzteblatt.de/blog/108208/Sinkende-Lebenserwartung-in-den-USA ; https://idw-online.de/de/news743294.

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Wer ist iDAF?
Von Jürgen Liminski, Chefredakteur des iDAF
Die moderne Gesellschaft lebt bekanntlich von Voraussetzungen, die sie selber nicht geschaffen hat (vgl. Wolfgang Böckenförde). Diese Voraussetzungen entstehen vor allem in der Familie. Die Familie selbst wiederum lebt nicht autonom. Die Gesellschaft bietet ihr Schutz und Freiraum, um die Voraussetzungen für ein menschliches Leben in der Gesellschaft zu schaffen. Familie braucht Gesellschaft, Gesellschaft braucht Familie. Dieses Zusammenwirken ist grundlegend für das Allgemeinwohl und für das Wohl des Einzelnen. Ohne intakte Familie keine menschliche Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit kein Sinn für die Freiheit (Kirchhof).
Die freiheitliche Gesellschaft ist auch die Grundlage für die soziale Marktwirtschaft. Die Schrumpfung und Unterjüngung der Gesellschaft bedrohen Wohlstand und Werte. Aber in der pluralistischen Medien-Gesellschaft ist die Wertedebatte schwierig. Das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. will die Zusammenhänge zwischen den Grundwerten heute, ihren geistigen Quellen und ihrer Bedeutung für die Zukunft einer liberalen Gesellschaft stärker ins Bewusstsein heben. „Nicht durch die Erinnerung an die Vergangenheit werden wir weise, sondern durch unsere Verantwortung für die Zukunft“ (George Bernhard Shaw).
Das Institut verfolgt bei seiner Arbeit vorzugsweise einen interdisziplinären Ansatz. Es ist partei- und konfessionsübergreifend. Es will die öffentliche Meinung, die „soziale Haut“ (Noelle-Neumann) befreien helfen von den Ausschlägen einer Ich-Gesellschaft. Ihre bevorzugte Methode ist die Verbreitung von Ergebnissen interdisziplinärer Forschung durch Teilnahme an Symposien, Kolloquien und an der publizistischen Debatte. Auf diese Weise sollen die Handelnden in Politik, Wirtschaft und Bildungswesen gestärkt, die Unentschlossenen und Nicht-Wissenden informiert werden. Die Initiatoren glauben, dass eine Wertedebatte von selbst entsteht, wenn die Zusammenhänge erkannt und der Mensch, insbesondere das Kind, in den Mittelpunkt der Gesellschaft gestellt ist. Das volle Entfaltungspotential des Menschen soll zum Zuge kommen.
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www.conservo.wordpress.com       11.08.2020
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