Dem türkischen Sultan flattert der Kaftan – Nachlese zum Erdbeben in der Türkei

Peter Helmes

„Beschleunigungsbemühungen“: Erdbebensteuer als fettes Bakschisch – Landläufig wird im arabischen Raum von „Bakschisch“ gesprochen, wenn man „Trinkgeld“ meint. Gewiß, gegen eine kleine Dankesgeste für Gefälligkeiten hat wohl niemand etwas einzuwenden.

Aber bei schlitzohrigen Türken ist das nicht die einzige Bedeutung – und hat eine lange Tradition noch aus osmanischen Zeiten. Dort – ei guck´ mal! – ist Bakschisch umgangssprachlich eher ein Ausdruck für Schmiergeld und steht auch für „Beschleunigungsbemühungen bei Verwaltungsakten aller Art“ – womit wir bei einer Erklärung für die entsetzlichen Erdbeben-Opfer angelangt sind.

Katastrophales Katastrophen-Management

Das Erdbeben in der Türkei bzw. dessen Auswirkungen macht die Kritik am Krisenmanagement von Präsident Erdogan unüberhörbar. Am eigenen (türkischen) Anspruch gemessen hätte man erwarten dürfen, die Türkei sei viel besser auf eine Katastrophe dieser Art vorbereitet als früher. Auch dort, wo jetzt Wohnblöcke wie Kartenhäuser zusammengebrochen sind, zahlen die Menschen eine Erdbebensteuer, die in den letzten beiden Jahrzehnten in sichere Bauten hätte fließen sollen, statt in eine korrupte Verwaltung.

Das wird zu Recht dem angesichts der Wirtschaftsdaten ohnehin schon angeschlagenen Erdogan angelastet, der alle Kraft brauchen wird, im Mai die Wahlen zu bestehen. Das Erdbeben könnte Erdogans politisches Ende beschleunigen. Und wie ist seine Reaktion:

„Dringlichkeit einer Wahlverlegung“?

Unglaublich! Da sind noch nicht einmal die letzten Toten geborgen – da wird schon über eine Verlegung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen um ein Jahr nachgedacht. Eine Verschiebung der Wahlen käme einem Putsch gegen die Verfassung gleich. Denn eine Verlegung der Wahl erlaubt die Verfassung nur im Kriegszustand, lediglich im Krieg also  kann das Parlament eine Wahl-Verschiebung beschließen, nicht aber wegen einer Naturkatastrophe.

Deshalb weiß Erdogan auch, daß das Verfassungsgericht einen solchen Parlamentsbeschluß kassieren könnte. Aber wie schon so oft in schwierigen Situationen erscheint plötzlich ein enger Mitstreiter des Präsidenten auf der Bühne und betont die „Dringlichkeit einer Wahlverlegung“. Es wäre naiv anzunehmen, daß Erdogan davon nichts gewußt haben soll.

Es liegt also der Verdacht nahe, daß die Regierung den Termin verschieben will, weil sie fürchtet, die Aufdeckung der Hintergründe der Erdbebenauswirkungen könne zu ihrer Abwahl führen, also Erdogan und seinem Hofstaat eine herbe Niederlage bereiten.

Die Wut auf Erdogan steigt

Und Präsident Erdogan sagte vorsorglich direkt nach der Katastrophe, auf ein Erdbeben dieses Ausmaßes könne man keinen Einfluß nehmen. Natürlich nicht. Aber hier geht es um die Vorbereitung; dafür hätte er nur auf die fähigen Architekten und Ingenieure im Land hören müssen. Nun schlägt die Wut Erdogan direkt und ungefiltert entgegen. So sehr, daß die Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Mai zu einem Fiasko zu werden droht. Nicht zufällig verdichten sich deshalb die Gerüchte um eine denkbare Verschiebung der Wahl – am  besten um ein ganzes Jahr.

Denn wenn sich jetzt die Stimmung gegen Erdogan wendet, wird es bei den Wahlen im Mai sehr eng für ihn werden. 2002 war er auch deshalb an die Macht gekommen, weil der Vorgängerregierung die Schuld für den Tod von 17.000 Menschen bei einem heftigen Erdbeben in Istanbul zugewiesen wurde.

Viele Türken werden Erdogan und seine Regierungspartei AKP kritisieren, wenn sich herausstellt, daß die Behörden sich nicht ausreichend um den Erdbebenschutz gekümmert haben. Die nach der Katastrophe in Istanbul 1999 eingeführte Erdbebensteuer wurde offensichtlich nicht nur für eine bessere Vorbeugung verwendet. Erdogan sowie Behörden und Bauunternehmern sollte klar sein, daß diese Achtlosigkeit nichts anderes ist als Mord.

Das Erbeben und der Ukraine-Konflikt

Und die politischen Auswirkungen werden sich nicht auf die Türkei beschränken. Dieses Erdbeben könnte sich auch auf die Weltpolitik, insbesondere auf die Entwicklung des Ukraine-Kriegs, negativ auswirken. Der türkische Präsident hat bereits in der Verhandlung um die Exporte von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer eine führende Rolle gespielt. Zudem ist Erdogan einer der wenigen Politiker weltweit, die zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine mit Russlands Präsident Putin noch unter vier Augen sprechen könnten. Dieses Erdbeben aber wird Erdogan dazu zwingen, sich überwiegend um die Folgen der Katastrophe und damit um die Innenpolitik zu kümmern.

Das Drama in Syrien steht kaum im Fokus

Und in einem anderen Teil der betroffenen Erdbebenregion, in Syrien, ist es noch schlimmer: Während noch viele Menschen aus den Trümmern hätten gerettet werden können, haben sich die syrischen Politiker nur mit voller Kraft um sich selbst gekümmert. Sie mißbrauchen die Katastrophe, um sich in eine bessere Position für zukünftige Verhandlungen zu bringen. Ihnen geht es um internationale Anerkennung und ihren Verbleib an der Macht. In beiden Landesteilen verschärften die Sicherheitsdienste ihre Kontrolle. Wer gegen Korruption und den Diebstahl von Hilfsgütern aufbegehrt, wird gefoltert. Syrien ist zu einer Belastung für die ganze Welt geworden

Aber die Opfer in Syrien dürfen nicht vergessen werden. Während die Hilfsgüter sowie Rettungsteams und Freiwillige aus vielen Staaten für die Türkei gut organisiert sind, kann das gleiche nicht für Syrien gesagt werden. Die Menschen dort leben weiter in ihren zerbombten Städten und Dörfern. Nach zwölf Jahren Krieg hängt ihr Leben am seidenen Faden wegen der „Machtspiele der Großen“, denen es bekanntlich nie um Gerechtigkeit, sondern vor allem um geopolitisches Kalkül geht. Die Weltgemeinschaft muß nun aktiv werden und auch den Menschen in Syrien helfen.

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