Alle meine Kopftücher

Thomas Böhm (Kopftuch Mädchen des Jahres)
Thomas Böhm
(Kopftuch-Mädchen des Jahres)

Ich habe diese Tücher immer geliebt, sie sind mir im Laufe meines Lebens einfach zu Kopf gestiegen. Ohne meine Kopftücher kam ich mir in dieser kalten und barschen Welt verloren vor. Ich glaubte an die Kopftücher. Bis vor kurzem.

Ich war sechs Jahre alt, als ich mich zum ersten Mal in ein Kopftuch verliebte. Das war das schöne und schlichte Kopftuch von Rotkäppchen, die mit Hilfe eines Jägers – und ich glaube heute noch, auch mit Hilfe ihres roten Kopftuches – den bösen Wolf überlisten konnte. Dieses Kopftuch war und ist heute noch für mich ein, ja, ich möchte fast sagen, religiöses Symbol für das Gute, das erfolgreich gegen das Böse kämpft. Ich habe mir das rote Kopftuch aus dem Märchenbuch herausgeschnitten und bewahre es immer noch in meiner Nachttischschublade auf.

Nur wenige Jahre später beglückte mich erneut ein Kopftuch. Das war in Bayern, auf einer Alm. Ein junges Mädchen mit roten Wangen und strahlenden Augen trug es. Es war blau mit weißen Punkten. Noch immer träume ich von diesem Kopftuch, davon, wie ich es dem Mädchen vorsichtig abnahm und es ganz zärtlich küsste (das Kopftuch). Ich habe es nie gewaschen, wollte den Duft von fettiger Milch und frisch gemähten Gras nicht verlieren. Dieses Kopftuch war und ist heute noch für mich ein, ja, ich möchte fast sagen, religiöses Symbol für die friedliche, sanfte Natur und die reine Seele eines Menschen.

Meine große Schwester trug damals auch ein Kopftuch. Sie war Stewardess bei der Lufthansa und sah mit ihrem hellblauen Kopftuch einfach schick aus, wenn sie morgens zur Arbeit ging. Ich verwende es immer noch gerne als Serviette. Auch Grace Kelly, Sofia Loren und Jacky Onassis sahen mit ihren wunderschönen Kopftüchern damals klasse aus. Auch dieser berühmte Kopfschmuck war und ist bis heute noch für mich ein, ja ich möchte fast sagen, religiöses Symbol für Erfolg, Karriere und Wind um den Ohren.

Ich trug dann auch ab und zu mal selber ein Kopftuch. Wenn mich Zahnschmerzen plagten. Meine Mutter tunkte den Lappen in eiskaltes Wasser und band ihn mir um den Schädel. Das sah dann nicht so klasse aus, hat auch nicht viel geholfen. Doch dieses Kopftuch war und ist heute noch für mich ein, ja ich möchte fast sagen, religiöses Symbol für den Schutz vor der schmerzhaften Realität und Vergänglichkeit des Lebens.

Dann, in meiner Pubertät wickelte ich mir eine halbe Tonne Kopftuch um das voll gekiffte Hirn. Mit Bommeln, schwarz-weiß gemustert. „Arafat-Tücher“ nannten wir diesen wärmenden und schwärmenden Stofffetzen. Er hielt uns den pickeligen Hals warm und die Polizei von der Pelle. Dieses Kopftuch war, ja ich möchte fast sagen, religiöses Symbol für zwecklosen Widerstand und politische Naivität.

Später, mit 40 Jahren und immer noch in der Pubertät, spielte ich den bösen Buben und zierte mein Gesicht mit einem Piratentuch. Sah albern aus, fanden meine Freunde. Ich fand das super, deckte das Piratentuch doch das kleine Loch in der Mitte, das meiner Haarpracht zu Leibe rückte. Dieses Kopftuch war und ist heute noch für mich, ja ich möchte fast sagen, religiöses Symbol für Abenteuer und Raublust.

Als ich dann endlich erwachsen wurde und auf das Motorrad stieg, hüllte ich meine rote Birne in ein schwarzes Schutztuch. Das sollte mich vor Insekten und Vogelkacke schützen, sah mächtig gefährlich aus und brachte mir in der linken Szene den einen oder anderen Applaus. Dieses Kopftuch war und ist heute noch für mich, ja, ich möchte fast sagen, religiöses Symbol für Kraft, Schnelligkeit, linken Nummern und Angst vor Fliegen.

Zur Zeit trage ich kein Kopftuch, dafür fast alle weiblichen Mitmenschen in meiner Umgebung. Einige der gut betuchten Damen sehen sicherlich ganz hübsch darunter aus, doch ob das auch stimmt, kann ich nicht wirklich beurteilen.

Aber gestern ist mir ein Kopftuch begegnet, dass hat mich fast das Leben gekostet. Ich war in der U-Bahn, Richtung Hermannstraße, Nachmittags, voll wie in einer Sardinenbüchse. Bei einem Ruckler verlor ich den Halt an der Stange über mir. Mein rechter Arm schwankte gefährlich in der Luft, in der Abwärtsbewegung blieb ich dann mit meinem Manschettenknopf an einem Kopftuch hängen, noch ein Ruckler und ich riss das Kopftuch mit herunter. Aus Versehen.

Egal, der Tumult brach los. Die Frau, jetzt ohne Kopftuch, fing an zu weinen, verbarg ihren Kopf mit ihren Händen, Männer stürzten auf mich zu, bespuckten mich, beschimpften mich, prügelten auf mich ein.

Gott sei dank war die nächste U-Bahn-Station nicht weit. Ich konnte aus dem Wagen kriegen, bevor ich meinen Kopf verlor.

Ich gehe mal davon aus, dass es sich bei diesem Kopftuch ebenfalls um ein religiöses Symbol gehandelt hat. Das fehlte noch in meiner Sammlung.

(Thomas Böhm, http://journalistenwatch.com/cms/)

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