Nach dem Tod von Elisabeth II.: Stirbt mit ihr die Verbindung der Briten zu ihrer Geschichte?

Peter Helmes 

Es war der Tag, vor dem sich die Briten so lange gefürchtet haben. Die Queen ist tot. Die Nation hat ihre größte Stärke verloren – den Kitt, der das Land so lange zusammengehalten hat, während Großbritannien versucht, seinen Platz in der Welt für die kommenden Jahrzehnte zu definieren. 

70 Jahre lang war Elisabeth die Zweite Großbritanniens beste Diplomatin, die größte Vertreterin von Soft Power. Es ist ein Hammerschlag für die britische Psyche. Die Nation in ihrem gegenwärtigen Zustand wird es nicht leicht haben, diesen Verlust zu verkraften.

Ein Tod zur “Unzeit” inmitten schwerer Krisen

Die längste monarchische Herrschaft in der britischen Geschichte ist vorbei. Doch das Buch der Rekorde ist weniger wichtig als das weit verbreitete Gefühl, daß das, was nun vergangen ist, nie mehr zurückkehren wird. Das Leben der Königin umspannte die gesamte Geschichte des modernen Großbritannien. Sie wurde geboren, als Großbritannien ein Weltreich mit etwa 600 Millionen Einwohnern beherrschte. Sie starb, als Großbritannien ein mittelgroßes nordeuropäisches Land mit einer ungewissen Zukunft geworden war. 

In Elisabeths Ära ist Großbritannien in das Atomzeitalter eingetreten, hat sein Imperium aufgelöst, ist der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei- und wieder (aus der EU)  ausgetreten. Über all diese Geschehnisse wachte fast unsichtbar die Persönlichkeit einer Herrscherin, die de facto gar keine Exekutivrechte hatte. 

Sie war die Verbindung zwischen dem britischen Volk und seiner Geschichte. Zwar war ihre Macht vor allem symbolisch und nicht mit dem Einfluß eines amerikanischen Präsidenten  vergleichbar. Trotzdem war Elisabeth ein Fels in der Brandung für ihr Königreich. 

Zuerst die Monarchie, dann die Monarchin

Sie stand stellvertretend und symbolisch für die britische Gesellschaft und das kulturelle Bewußtsein. Stetig wie ihr allgegenwärtiges Profil auf Briefmarken und Münzen verkörperte die Königin die britische Selbstbeherrschung. Während andere in der königlichen Familie sich lautstark zu ihren Privatleben äußerten und ihre Meinungen kundtaten, stellte sie die Monarchie über die Monarchin, gab der Pflicht den Vorrang vor persönlichen und familiären Interessen. Letztlich war ihre praktizierte Unparteilichkeit ein Vorteil, der es ihr ermöglichte, zu einem Nationalismus ohne Parteilichkeit zu inspirieren. Die Beliebtheit und Langlebigkeit der Queen haben als einende Kraft gewirkt. 

Königin Elisabeth II. hat dem Land Tradition vermittelt, Werte verliehen und diese in der ganzen Welt verantwortungsbewußt und würdevoll repräsentiert. Die Briten lieben ihr Königshaus nicht der Monarchie wegen, sondern sie verehren vor allem ihre Queen, die in ihrer langen Regentschaft zur moralischen Instanz wurde und weltweit höchsten Respekt und großes Ansehen genoß. Großbritannien verdankt auch der Königin sein internationales Standing.

Die Skandale, die sie bewältigte, könnten ins Königshaus zurückschwappen

Die Geschichte von Elizabeth II. handelt auch davon, wie ein Mensch die Personifizierung nationaler Traditionen und Symbole wurde. Das Gesicht und die Gestalt der Königin, die farbenfrohen Kostüme und Hüte, die kleine Tasche an ihrem Arm sind in allen Ecken der Welt bekannt. Sie war wahrscheinlich die berühmteste Person auf dem Planeten. 

Sie war eine Königin, deren Hauptaufgabe darin bestand, das Schiff der archaischen Institution durch die Skandale zu navigieren, damit die Briten nicht dem Gedanken verfallen, die Monarchie gehöre letztlich doch auf den Müllhaufen der Geschichte. Es sind die jüngeren Generationen, enttäuscht durch die schlechte Behandlung von Harry und Meghan, durch die Skandale um Prinz Andrew und den Brexit, die sich nicht mehr mit der Queen identifizierten und die den Windsors die größte Sorge bereiten. Trotz Elizabeths Erfolgen steht die Monarchie unter einem Fragezeichen – sie wird sich ihren Platz im Großbritannien des 21. Jahrhunderts suchen müssen.

Die Gefahr des Auseinanderfallens des Commonwealth ist groß!

Wir sollten auch nicht vergessen, daß nicht nur das Vereinigte Königreich eine Monarchin verloren hat, sondern auch Australien, Kanada, Neuseeland und elf weitere Überseegebiete des Commonwealth, die die Königin als Staatsoberhaupt behalten haben. Werden sie ohne Elisabeth dem Druck widerstehen können, Republiken zu werden? 

Nach den Trauerfeierlichkeiten beginnt die eigentliche kollektive Besinnung, und ein neuer König wird das Volk anführen: der alte, barsche, trockene und leidenschaftslose Charles. Begleitet wird er von seiner zweiten Ehefrau Camilla, deren Beförderung zur Königsgemahlin von einem Volk, das so sehr Diana an der Seite von Charles bevorzugt hätte, nicht allumfassend akzeptiert wurde. Die Monarchie wird vielleicht den Tod Elizabeths überleben, aber in einer anderen und mit ziemlicher Sicherheit geschwächten Form. 

Die Briten sind mit dem Tode ihrer Königin Elisabeth an einem Punkt angekommen, an dem  sie sich selbst neu erfinden müssen. Zudem haben sie erst seit ein paar Tagen eine neue Premierministerin, und die Bande zu ihren europäischen Nachbarn und Freunden sind gekappt.  

Aber wie auch immer, selbst eingefleischte Republikaner empfinden größten Respekt vor dem Lebenswerk der Queen. Großbritannien hätte sich keine bessere Landesmutter wünschen können. 

Requiescat in pace!

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