Alarmierende Verstimmung zwischen Paris und Berlin

Peter Helmes

Es steht nicht sehr harmonisch um die deutsch-französischen Beziehungen. Zum Hintergrund gehört gewiß, daß Kanzler Scholz alles andere als frankophil gilt. Er fremdelt mit der Grande Nation und pflegt wohl lieber seine anglophile Ader. Monsieur le Président Macron gehört gewiß nicht zu seinen Herzensfreunden. Können wir uns den Wahnsinn leisten?

In der Tagespolitik kann man solche Entwicklungen häufig an (vermeintlichen) Äußerlichkeiten feststellen. Beide Seiten betonen zwar unablässig ihre gegenseitige Freundschaft und ihr gegenseitiges Vertrauen. Aber das Gefühl, das sei beiden eine „Herzenssache“, will nicht so recht aufkommen. Das sieht man an Äußerungen, die man in den früheren Jahrzehnten so deutlich nicht gehört hat: Es gebe „eine ganze Reihe von unterschiedlichen Themen“, bei denen die beiden Regierungen „noch nicht so weit“ seien, „daß man zu einer einheitlichen Position gekommen ist“ (Regierungssprecher Hebestreit). Bisher stand unwidersprochen die gegenseitige Übereinstimmung stets an erster Stelle.

Eine gewisse Beziehungsunfähigkeit

Zwischen Emmanuel Macron, dem französischen Staatspräsidenten, und Scholz knirscht es gewaltig. Ohne die deutsch-französische Achse läuft in der EU aber bekanntlich nichts rund, und so haben die Beziehungsstörungen auch direkte Konsequenzen für Europa. Daß es überhaupt so weit kam, hat mit der Wucht des Ukraine-Krieges, den unterschiedlichen Antworten auf die Energiekrise und womöglich auch mit dem Stil von Olaf Scholz zu tun.

Daß es nach dem Treffen zwischen Macron und Scholz in der vergangenen Woche weder eine gemeinsame Erklärung noch eine Pressekonferenz gab, zeigt deutlich, wie unterkühlt die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland derzeit sind. Paris scheint nicht nur verärgert zu sein, daß es beim geplanten Luftabwehrsystem leer ausgeht, obwohl die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden soll. Bei dieser Planung der europäischen NATO-Länder spielt Frankreich offenbar keine Rolle.

„Irritationen“

Ständig gibt es Diskrepanzen zwischen dem Élysée-Palast und dem Kanzleramt. Außenpolitik-Profis wie der erfahrene Außenpolitiker (und SPD-Fraktionsvorsitzende) Rolf Mützenich sprechen in solchen Fällen zwar nicht von einer „Krise“, aber doch von „Irritationen im deutsch-französischen Verhältnis“. Beide Seiten bemühen sich zwar darum, einen Eklat zu vermeiden; denn die internationale Lage ist dafür zu ernst.

Dennoch schafften es Berlin und Paris derzeit nicht, eine gemeinsame Sitzung beider Regierungen abzuhalten. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, kündigte an, daß das bilaterale Regierungstreffen in der ehemaligen Königsstadt Fontainebleau in den Januar verlegt worden sei. Laut Hebenstreit „bedürfen die Abstimmungen noch einiger Zeit“. Die Vertagung sei „gemeinsam“ beschlossen worden. Diese Verschiebung darf man durchaus als ein Novum betrachten. Frühere symbolische Regierungszusammenkünfte hatten noch immer wie geplant stattgefunden.

Zauderer Scholz treibt plötzlich zur Eile

Von französischer Seite gab es vorerst keine offizielle Reaktion. Die französische Presse redet nicht um den Brei herum: Das Hauptproblem sei der von Kanzler Olaf Scholz seit Monaten geplante, unlängst präsentierte europäische Luftabwehrschirm, „European Sky Shield Initiative“. Frankreich ist nicht unter den 15 Partnerstaaten, offiziell, weil es bereits eine Raketenabwehr hat. Macron hatte allerdings angeboten, diesen Schirm mittelfristig auf interessierte Länder auszudehnen, um eine breite europäische Abwehrfront gegen russische Angriffe zu bilden. Das dauerte Scholz wiederum zu lange.

Daß die Franzosen das bilaterale Regierungstreffen – üblicherweise eine feierliche Zusammenkunft – abgesagt haben, läßt nur darauf schließen, daß Macron damit seinen Unwillen sehr deutlich ausdrücken wollte. Scholz’ Luftschirm-Projekt ist sicher die derzeit gravierendste Streitfrage zwischen Paris und Berlin – aber längst nicht die einzige. Auch bei milliardenschweren Rüstungsprojekten für den gemeinsamen Kampfjet FCAS oder den Panzer MGCS driften die deutschen und französischen Industriellen zunehmend auseinander.

Wer braucht schon Berlin zur Waffenentwicklung?

Ärger gibt es insbesondere um die militärische Ausrüstung. Macron hält jedenfalls die auf Importe aus den USA gestützten Waffensysteme für sinnlos. Aber die Verstimmung reicht auch weit in andere Bereiche hinein. Die deutsche Energiepolitik und das 200-Milliarden-Energiepaket stoßen beim französischen Präsidenten ebenfalls auf Ablehnung, so wie der deutsche Kanzler einen von Macron favorisierten Preisdeckel für Gas in der EU ablehnt. Auch im Verteidigungsbereich knirscht es, weil Deutschland amerikanische F-35-Kampfjets kaufen will. Und im Energiebereich, weil beide Länder beim Gaspipelineprojekt Midcat oder beim Gaspreisdeckel über Kreuz liegen.

Was wirklich beunruhigt, ist, daß Deutschland nach Einschätzung verschiedener Quellen offenbar seinen Status als europäische Führungsmacht über den des Solidaritätsmotors stellen will. Die deutsch-französischen Differenzen müssen schnellstmöglich behoben werden. Man darf solche Klimaschwankungen gerade zwischen Frankreich und Deutschland nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn diese zentralen Länder Europas sich nicht verstehen, kann die gesamte EU in Turbulenzen geraten.

Wie so oft in internationalen Fragen macht die Bundesregierung gegenüber Paris keine gute Figur und ist verantwortlich für das angespannte Verhältnis zu Frankreich. In der größten geopolitischen Krise Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ordnet die Regierung in Berlin die strategische Koordination mit seinem wichtigsten Partner kurzfristigen Eigeninteressen unter.

Zuviel Dilettantismus

Keine Frage, auch Frankreich verfolgt zumeist eigene Interessen innerhalb Europas. Allerdings ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Fall von Deutschland besonders augenfällig. Vor wenigen Wochen sagte der Chef des Bundeskanzleramts, Wolfgang Schmidt, daß sich Deutschland auf dem Feld der Außenpolitik noch in seinen Teenager-Jahren befinde. Der flapsige Vergleich sollte die Unbeholfenheit des Landes mit einem Witz überdecken. Doch unbeabsichtigt trifft Schmidt den Kern des Problems: In der europäischen Familie benimmt sich Deutschland momentan wie ein egozentrischer Teenager, dem die anderen egal sind.

Deutschland spielt im europäischen Solidaritäts-‚Mikado‘ ohnehin eine sehr spezielle Rolle. Die Botschaft der Regierung in Berlin mit dem 200 Milliarden Euro schweren Schutzschirm zur Bekämpfung der Energiekrise war für alle anderen EU-Länder klar und deutlich: „Komme was wolle, wir können uns den Wahnsinn leisten.“

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