Gute Nacht, Europa – neue asiatisch-pazifische Strategie

Es ist wie bei Galileo Galilei – nicht die Sonne dreht sich um die Erde, sondern die kleine Erde um das riesige Sonnensystem. Im übertragenen Sinne: Nicht die Welt dreht sich um Europa, sondern das kleine Europa dreht sich innerhalb der Welt und ist fortan (nur) einer von mehreren bedeutenden Spielern („global players“). Europa wird in Zukunft von anderen Gravitätszentren beeinflußt werden, und eben nicht nur von den USA, und bleibt schon gar nicht mehr der eingebildete Mittelpunkt unseres Erdballs.

Kluge Volkswirte, allen voran die bei Goldman Sachs – ich weiß, die haben sich auch schon ´mal geirrt – schätzen die langfristige Entwicklung Europas ausgesprochen mies ein. Das ist an sich noch nichts Neues. Interessant an den Studien von Goldman Dachs ist aber, wer hinfort anstelle Europas nach vorne rutschen würde. Jim O´Neill, einer der bedeutendsten Analysten der USA – und Erfinder des Wortes „BRIC-Staaten“ (Brasilien, Rußland, Indien, China) – hatte das enorme Wachstum  der BRIC-Staaten in den letzten zehn Jahren am deutlichsten vorausgesagt: durchschnittlich 10 Prozent! Eine Zahl unterstreicht die Entwicklung besonders: 1990 hatten die BRIC-Staaten noch einen Anteil von nur elf Prozent am globalen Inlandsprodukt, 2011 sind es aber bereits 25 %. O´Neill erweiterte jetzt seine Szenarien bis zum Jahr 2050 und kommt zu dem Ergebnis, daß dann der Anteil  (nur) der BRIC-Staaten bei etwa 40 Prozent liegen werde. Damit würden dann diese fünf Staaten zu den Top- Ten der globalen Volkswirtschaften gehören.

Nicht genug damit. Die für Europa bedrückende Vorhersage geht weiter: Zusätzlich zu den BRIC-Staaten wachsen weitere globale Wettbewerber heran – bisher etwas hochnäsig  „Schwellenländer“ genannt. Dazu gehören Ägypten, Bangladesh (?), Indonesien, Iran (!), Südkorea, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Philippinen, die Türkei und wohl auch Vietnam. Man mag durchaus über das eine oder andere Land streiten, aber die Tendenz liegt auf der Hand. Und das Fazit hieße dann – wenn sich Europa weiter in Kleinstaaterei verfängt: „Gute Nacht Europa!“ Denn seine Einzelstaaten – voraussichtlich mit der Ausnahme Deutschlands – werden dann kaum global wettbewerbsfähig bleiben.

Neue US-Strategie im Pazifik

Indirekt wird dies durch die Neuorientierung der US-amerikanischen Außenpolitik in  Washington bestätigt, allerdings erweitert um eine geostrategische, militärische und politische Sicht, die das alte Europa aufhorchen lassen muß:

Es war der US-amerikanische Präsident Barack Obama himself, der die absolute Kehrtwende der bisherigen Politik ankündigte (weshalb sie eilfertig zur „Obama-Doktrin“ erklärt wurde) – eine Ankündigung von welthistorischer Dimension, die aber in Europa bisher nur wenig Resonanz fand (man braucht halt etwas Zeit zum Kapieren). Er habe die strategische Entscheidung getroffen, daß die Präsenz der USA im pazifischen Raum künftig höchste Priorität genieße, erklärte Barack Obama anläßlich seines Besuches Australiens vor dem Parlament in Canberra. Unausgesprochen hielt er damit eine Art Totenrede auf die alte transatlantische Freundschaft. Das Engagement in Asien wird zulasten Europas gehen – allen Beteuerungen zum Trotz – und bedeutet letztlich: Das Gravitätszentrum der Weltwirtschaft und der Weltpolitik verlagert sich zum asiatisch-pazifischen Raum. Es gibt gute Gründe, warum die USA ihre Präsenz in einer der dynamischsten Regionen dieser Erde verstärken. Nur Europa droht bei dieser Entwicklung politisch außen vor zu bleiben. Erkennbare Anstrengungen, in Südostasien Präsenz zu zeigen, unternehmen weder Deutschland noch Europas Außenbeauftragte Ashton. Merke: Ein paar „Außenwirtschaftsvertretungen“ sind noch kein Ersatz für Schwerpunkt-orientierte Außenpolitik. Noch immer lebt Europa in der Vorstellung, es sei Subjekt und nicht Objekt der Weltpolitik.

Falls da noch Zweifel waren an der historischen Epochenwende, welche die USA gerade vollziehen, so hat Außenministerin Hillary Clinton sie endgültig ausgeräumt – in der Zeitschrift ‘Foreign Policy’. Ihr Text mit dem Titel „Amerikas pazifisches Jahrhundert“ erschien just vor der Asienreise von Präsident Barack Obama – sicher kein Zufall. Amerika muß demnach seine knapper werdenden Ressourcen auf jene Orte konzentrieren, die in Zukunft wirklich zählen. Irak oder Afghanistan gehören für Clinton nicht mehr dazu. Zählen wird künftig hingegen der asiatisch-pazifische Raum, der von Indien bis zur Westküste der USA reicht und zwei Ozeane, die Hälfte der Menschheit und mehrere Motoren der Weltwirtschaft umfaßt. Hier liege die Zukunft, hier müsse Amerika ein wirtschaftliches und militärisches Gegengewicht zur aufstrebenden Weltmacht China aufbauen, meinte Frau Clinton. Diese Strategie von Barack Hussein Obama – aufgewachsen in Hawaii und Indonesien – wird jetzt umgesetzt. Damit neigt sich das transatlantische Jahrhundert dem Ende zu. Das ist für Europa doppelt bitter. Erstens verliert es die Aufmerksamkeit der USA, und zweitens wird es von ihnen beim diplomatischen Wettlauf im pazifischen Raum abgehängt. Höchste Zeit also, daß die deutsche Außenpolitik wach wird.

China größte Weltwirtschaft

Der australische Außenminister Kevin Rudd sagt es noch deutlicher – und noch schmerzlicher für die Europäer: Am Ende dieses Jahrzehnts werde China voraussichtlich die größte Wirtschaft der Welt sein. „Erstmals in 200 Jahren wird ein nichtdemokratisches Land über die größte Wirtschaft verfügen. Und für den Westen noch dramatischer: Erstmals in 500 Jahren wird es ein nichtwestliches Land sein, das die Liga der Weltwirtschaft anführt“ (Rudd) und wohl auch lange die NR. 1 in der Welt bleiben werde.

Mit dieser Wende versuchen die USA zugleich, verlorengegangenes Terrain zurückzuerobern. Nirgendwo kann Amerika deutlicher zeigen, daß es entschlossen ist, den wachsenden chinesischen Einfluß in Südostasien zurückzudrängen, und es kann zeigen, daß die USA das strategische Potential der Staaten unterhalb Chinas entdeckt hat. Obama warb bereits im November des letzten Jahres auf dem „Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforum“ in Hawaii für eine neue Freihandelszone in der südostasiatischen Region unter Ausschluß der Volksrepublik China und beschwor eine „Transpazifische Partnerschaft“. Eines wird zunehmend klar: Die Vereinigten Staaten werden sich gegen die chinesische Herausforderung ihrer Vorherrschaft in Asien wehren und dabei alle Instrumente ihrer Macht einsetzen – die „ehrgeizigste, neue strategische Doktrin, seit Truman Amerika auf die Eindämmung der Sowjetunion eingeschworen hat“, nannte dies Hugh White, Professor für strategische Studien an der „Australian National University Canberra“. White, in seinem Heimatland hochangesehen, hält mit Kritik nicht zurück: Für ihn ist die „Obama-Doktrin undurchdacht, gefährlich und ein schwerer Fehler“. Zum Erfolg könne diese neue Politik nur führen, wenn sich China einschüchtern ließe oder wirtschaftlich kollabiere – und das sei beides unwahrscheinlich. Obama, so White, steuere mit offenen Augen „unweigerlich auf einen Konflikt“, der der Weltwirtschaft schaden und im schlimmsten Fall in einen Krieg münden werde, der sich z. B. leicht an der Taiwan-Frage entzünden könnte.

Derweil versichert die amerikanische Außenministerin Clinton mit treuherzigem Augenaufschlag, daß Europa für Amerika „Partner der ersten Wahl bleibe“. Man stehe „Seite an Seite mit den alten Verbündeten, um den Herausforderungen und Gefahren des 21. Jahrhunderts zu begegnen“ (Clinton). Der deutsche Außenminister de Maizière springt ihr (hinter verschlossenen Türen) bei: Die Europäer, sagte de Maizière, sollten nicht wie gebannt auf die strategische Neuorientierung der USA starren, es gebe schließlich noch viel Gemeinsames zu tun. Eigentlich ist de Maizière ein vernünftiger Mann, aber hier kann man ihm nicht folgen. Wieder ist es Kevin Rudd, der Klartext spricht. Er vermißt in dem ganzen geostrategischen Konzert die Stimme der Europäer, „obwohl sie doch mit Blick auf künftige asiatische Sicherheitsstrukturen soviel anzubieten hätten“. Aber die Europäer seien offensichtlich eher mit sich selbst beschäftigt, ließ Rudd durchblicken, und wollten verhindern, daß „ihnen in der Staatsschulden- und Euro-Krise der ganze Laden auseinanderfällt“. Aber auch hier fehlt ihnen ein schlüssiges Konzept – und die notwendige Einigkeit.

Über conservo 7864 Artikel
Conservo-Redaktion