Der Tod, kein banales „Basta-Schluss-Aus“

Gedanken zum Novembermonat

(www.conservo.wordpress.com)

Von Dr. Udo Hildenbrand

Es ist ein besonderes Geschenk, den Wechsel der Jahreszeiten so intensiv beobachten und miterleben zu können, wie es in unseren Breitengraden möglich ist. Kostenlos wird mir das ganze Jahr über ein Naturszenario mit allen Variationen geboten: Sonne und Regen, Gewitter und Sturm, Nebel und Schnee, alle Farben der Natur bis hin zum Grau in den vielfältigen Schattierungen des Tageslichtes und auch in mondhellen Nächten.

Doch ich bleib´ dabei keineswegs nur Zuschauer. Mit meinem körperlichen und seelischen Empfinden bin ich in diese Naturvorgänge einbezogen, manchmal belastet wie etwa bei einer Autofahrt im Nebel, immer bereichert jedoch durch Sonnenschein und den Glanz des Mondes. Wie freue ich mich derzeit über die außergewöhnliche Farbenpracht der Blumen und Sträucher, Bäume und Wälder, die von der noch kräftigen Herbstsonne angestrahlt werden.

Beim Nachdenken über die Verbindung mit diesen Naturerfahrungen  in  meinem Leben  wird mir klar: Hinter diesen oft beglückenden, gelegentlich aber auch bedrückenden Vorgängen in der Natur  verbergen sich im rhythmischen Wechsel der Jahreszeiten die elementaren Prozesse allen Lebens, nämlich das Wachsen und Werden, das Reifen und Vergehen. Und ich selbst bin dabei mittendrin einer der unendlich vielen Mitspieler im großen Spiel des Lebens.

Das Sterben und Vergehen in der Natur jetzt im November führt mir erneut in besonderer Weise meine eigene Sterblichkeit vor Augen und damit auch die uralte Wahrheit, die Matthias Claudius in die schlichten Worte fasst:

„Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss.“

Dazu kommen die Gedenktage, die dem Monat November seinen düsteren Beinamen „Totenmonat“ geben: Allerheiligen (mit dem Gräberbesuch), Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Deshalb ist wohl auch für viele Menschen unseres Kulturkreises der elfte Monat„der schlimmste der zwölf Brüder“ (Jean Paul).

Unser Gedenken an die Toten verbindet sich in großer Dankbarkeit insbesondere auch mit all jenen, die ein bleibend wertvoller Teil unseres eigenen Lebens sind. In gläubigen Menschen wird dabei die Hoffnung auf ein Wiedersehen wach. Mit Augustinus können sie voller Hoffnung sagen, die weit über die bloße Erinnerung an die Verstorbenen hinausgeht:

Auferstehung ist unser Glaube,
Wiedersehen unsere Hoffnung,
Gedenken unsere Liebe.

An diesen Gedenktagen stellen sich bei mir immer wieder auch Gedanken an meine eigene Sterblichkeit ein. Gelegentlich kommen mir dabei auch jene mittelalterlichen Worte in den Sinn:

„Was unsere Toten einst waren,
sind wir Lebenden jetzt.
Was sie jetzt sind, werden wir alle einmal sein.“

Trostlose Aussichten!? Jedenfalls Realität. Und ich möchte nicht zu jenen zählen, die verdrängen, dass das Sterben und der Tod wie das Geborenwerden zum Leben gehören. Ich kann und will nicht zu mir selbst realitätsfern und selbsttäuschend sagen: „Sterben − das tun doch nur die anderen!“ Nein, viel lieber lass´ ich mir vom heidnischen Philosophen Seneca sagen:

„Jener letzte Tag, vor dem du zurückschreckst,
ist der Geburtstag der Ewigkeit.“

Zutreffend und hilfreich ist auch sein Rat:

Richte dein Streben dahin, dass der Name des Todes
seinen Schrecken für dich verliert.
Mach ihn dir durch häufiges Nachdenken vertraut,
damit du, wenn es die Umstände fordern,
ihm sogar entgegensehen kannst.“

Auch die Gebetsbitte in Psalm 90 empfiehlt uns allen, die wir das „Gen des Todes“ in uns tragen, gerade auch im Blick auf das Lebensende weise zu sein im Wissen um die Begrenztheit unserer Lebenszeit und in der Dankbarkeit für jeden geschenkten Tag:

Unsere Tage zu zählen, lehre uns!
Dann gewinnen wir ein weises Herz.“

Nach Sokrates führt das Nachsinnen über die Vergänglichkeit des irdischen Lebens auch zum rechten Maß in allen Lebenslagen, in guten und in schweren Zeiten:

Bedenke stets, dass alles vergänglich ist.
Dann wirst du im Glück nicht zu fröhlich
und im Leid nicht zu traurig zu sein.“

Diese Ratschläge wollen uns gewiss nicht zu einem ständigen, unaufhörlichen Nachdenken über den Tod motivieren. Denn jedes Sinnieren, das nur noch zwanghaft das eigene Sterben, den eigenen Tod gedanklich umkreist, führt allmählich zu krankhaften Zuständen und schließlich sogar zur Selbstzerstörung.

Es ist nicht so, dass die Gedanken an das Sterben und an den Tod sowie das Sprechen darüber auch für mich als einem gläubigen Christen völlig angstfrei, gar angenehm wären. Doch der Tod ist für mich keine trostlose Endstation, kein banales „Basta – Schluss – Aus“. Über die Wegstrecke von Sterben und Tod geht der Weg hinein in eine andere Welt. Es ist eine Welt, die mir auch in meinem jetzigen Leben keineswegs vollkommen verschlossen bleibt oder gar gänzlich unbekannt und fremd ist.

 Jeden Tag ein kleines Wegstück der lichtvollen Welt Gottes näherkommen

Denn seit meiner frühen Kindheit hab´ ich mir diese Welt „dort oben“ durch ein langes Leben hindurch immer ein Stückchen mehr bekannt und vertraut gemacht. Oder besser: Sie wurde mir auf unterschiedliche Weise und auf recht verschiedenen Wegen bekannt und vertraut gemacht: Es ist die lichtvolle Welt Gottes, der ich Tag für Tag ein kleines Wegstück näherkomme. Es ist Gott selbst, auf den ich zugehe. Vor allem aber: Es ist Gott selbst, der mir von dort entgegenkommt.

Der November-Auftakt, das Fest Allerheiligen, ist wie ein hell leuchtendes „Fenster zum Himmel“, das uns in den Lichtkreis der namentlich bekannten, ebenso auch der weitaus größeren Anzahl der unbekannten Heiligen blicken lässt. Das Allerheiligenfest zeigt uns zugleich das endgültige Ziel unseres eigenen Lebens auf: Die Vollendung und Glückserfüllung in Gott zusammen mit einer riesigen Schar von Menschen, die als Heilige verehrt werden.

Dazu zählen auch all jene Menschen, „die vor Gott Gnade gefunden haben von Anbeginn der Zeit“ (Katholische Liturgie) – unabhängig also von der Zeit, in der sie lebten, unabhängig auch von den Umständen, in die sie hineingeboren wurden, unabhängig sogar von ihrer Religion oder Weltanschauung, der sie angehörten. Denn zu jeder Zeit erwählt(e) Gott gnadenhaft Menschen, für ewig bei ihm zu sein – angefangen von der Urzeit der Menschheitsgeschichte bis hin zu ihrem Ende. Sie haben z. B. nie etwas von Jesus und seiner Erlösungsbotschaft gehört, haben aber nach ihrem Gewissen gelebt und gehandelt.

Natürlich will auch ich einmal zu jenen gehören, die „das große Los“ ihres Lebens gezogen haben und in der letzten, bleibenden Heimat im Himmel bei Gott und allen Vollendeten für immer leben dürfen.

„Denn unsere Heimat ist im Himmel.
Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn,
als Retter, der unseren armseligen Leib verwandeln wird
in die Gestalt seines verherrlichten Leibes, in der Kraft,
mit der er sich auch alles unterwerfen kann.“ (1 Philipper 3,20-21)

Dieser Gemeinschaft der in Gott Vollendeten in der Heimat des Himmels anzugehören, ist uns allen durch Jesus Christus verheißen, der „die Auferstehung und das Leben“ ist. Denn wer an ihn glaubt, „wird auf ewig nicht sterben“ (Johannes 11,25).

Lichter auf den Gräbern

So hat der Monat November, „der schlimmste der zwölf Brüder“, auch eine helle,hoffnungsfrohe Seite. Warum? Weil ich trotz aller Ungewissheiten und Fragen fest an das Geheimnis der Auferstehung glaube und gemeinsam mit allen gläubigen Christen meinem österlichen Glauben mit den Worten des Großen Glaubensbekenntnisses immer wieder Ausdruck verleihe:

„Wir erwarten die Auferstehung der Toten
und das Leben der kommenden Welt“.

Dabei weiß ich: Dieser Glaube ist auch eine Zumutung und eine Herausforderung. Aber ohne den Glauben an die Auferstehung wäre mein christlicher Glaube sinn- und nutzlos (vgl. 1 Korinther 15,14).  Auch die Lichter auf den Gräbern unserer Heimgerufenen künden von diesem Auferstehungsglauben.

Mit diesen Gedanken gläubiger Zuversicht will ich aber die andere, dunkle Seite unserer Lebenswirklichkeit keineswegs ausblenden: Die Dauer unserer Pilgerschaft in dieser Welt ist unterschiedlich lang und hält nicht nur Erfreuliches für uns bereit. Sie ist immer auch voll von Mühsal und Kümmernissen, Verleumdungen und Beschwernissen – für die einen mehr, für die anderen weniger. Für viele Menschen ist diese Welt sogar ein einziges Tränental. Sie schreien nach Erlösung. Und niemanden gibt es, der sie trösten könnte (vgl. Kohelet 4,1). Alles Leid aber gipfelt und endet im Tod, dessen zerstörerische Wirkkraft von Melitta Müller-Hanse mit den lebensnahen Worten beschrieben wird:

„Der Tod ist ein Abreißer, ein Alleszerstörer.
Er macht aus uns Fragmente, Stückwerk,
er reißt auseinander und trennt Kinder von ihren Eltern
und Eltern von ihren Kindern. Ehepaare, Liebespaare und Freunde.“

Trotz dieser bedrückenden menschlichen Erfahrung teile ich mit allen Menschen, die über den Tod hinaus an das unzerstörbare Leben in der Ewigkeit Gottes glauben, die Hoffnung:   Wenn das Leben voller Mühsal ist, dann bringt sein Ende ganz gewiss auch Erleichterung und Befreiung. Erleichterung und Befreiung aber ist etwas Gutes. Ist aber der Tod dieses Ende, dann ist auch er somit ein Gut und damit zugleich auch ein Freund, wie Ambrosius von Mailand meint.  In diesem Sinne kann auch Franz von Assisi in seinem Sonnengesang vom „Bruder Tod“ sprechen, ganz erfüllt vom Glauben an den Gott des Lebens, in dessen liebende Hände er sich im Tod vertrauensvoll fallen lässt. 

Für sehr gelungen und auch für mich beherzigenswert halte ich die Glaubensworte des Dichters Rainer Maria Rilke in seinem weithin bekannten Herbstgedicht.  Mit feinen Strichen  zeichnet er darin das Bild von den liebenden Händen Gottes. Diesem Bild entnehme ich die für mich wichtigste Botschaft dieses Gedichtes:  Einer ist da, wenn alle anderen mich verlassen müssen, der auch mich bei meinem Sterben und bei meinem Tod „unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

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* Dr. Udo Hildenbrand ist katholischer Theologe (Priester) und Publizist

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