Besatzungsrecht? Wie steht es um unsere Souveränität?

Peter Helmes

In meiner mehr als 50-jährigen publizistischen Tätigkeit dürfte wohl kaum ein Monat vergangen sein, in dem mir nicht die Frage – in verschiedenen Textvarianten – nach der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland begegnet ist. Meist geht es den Fragestellern um das (vermeintliche?) Besatzungsstatut unserer Republik, um angebliche „Geheime Verträge“ mit den USA bzw. den Siegermächten und um (zwangsweise) Unterschriften unter einen Vertrag, die jeder Bundeskanzler leisten müsse und in dem eine „Unterwerfung unter die Siegermächte festgeschrieben“ sei.

Mit dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ hat die Bundesrepublik Deutschland 1990 zwar offiziell die volle Souveränität erlangt. Auch die rechtswissenschaftliche Literatur geht von der weitgehenden Erledigung allen Besatzungsrechts aus. Aber wie steht es nun wirklich um die Souveränität Deutschlands? Und wie ist die Aussage von Wolfgang Schäuble, Deutschland ist „seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen“, zu verstehen?

Das Thema wirft viele Fragen auf. Zu keinem Thema wurde so viel Unsinn – von allen Seiten – veröffentlicht wie zu diesem. Die Spekulationen schießen ins Kraut, der Laie ist überfordert. Man benötigt also fachkundigen Rat. Den erhalte ich gerade durch ein erst vor einigen Tagen  erschienenes Buch, das von Fachjuristen verfaßt wurde: „Das aktuelle ´Besatzungsrecht` in Deutschland und die Souveränitätsfrage“ aus der Reihe des VAW-Pressebüros. „Die Europäische Union und die Souveränitätsfrage“, Band 3*).

Mit diesem 3. Band liegt nunmehr der Hauptteil der dreibändigen Reihe vor. Er gibt den aktuellen Stand der Lage unserer Nation wieder.Im Vorwort heißt es u.a.:

…Schon bei der Planung (der Buchreihe) waren wir uns bewusst, dass Band 3 das brisanteste Buch der Reihe werden wird, weil es am aktuellen Kernpunkt über die Auflösung der Souveränität in Deutschland angekommen ist. Wir waren uns auch bewußt, dass mit diesem Buch eine unendliche Aufgabe vor uns liegt, die bisher noch niemand in diesem Ausmaß ausgearbeitet hat.

Besatzungsrecht hin oder her, der Verlust unserer Souveränität ist vom Besatzungsrecht über dem NATO-Truppenstatut hin zu den EU-Verträgen wieder an einem Tiefpunkt angelangt. Das Endziel „Die Vereinigten Staaten von Europa“ ist noch nicht vollends erreicht. Fest steht jedoch – wie die Praxis es zeigt – die Bundesrepublik Deutschland ist der größte Verlierer dieser Idee (…)

…Und es ist gelungen, die Menschen in Deutschland so lange umzuerziehen, bis sie ihren eigenen Nationalstaat verachten und die „Vereinigten Staaten von Europa“ als den Heilsbringer ansehen. Ein Irrglaube; denn dieses Buch belegt nicht nur den zunehmenden Verlust unserer Souveränität, sondern zugleich die Hintergründe und die Absichten, die sich hinter diesem kultur- und wirtschaftszerstörenden Konstrukt verbergen…

Alliierte Vorbehaltsrechte

Wir brauchen gar nicht drum herum zu reden: Die ´Souveränität Deutschlands` ist nach wie vor durch alliierte Vorbehaltsrechte eingeschränkt. Ausgangspunkte sind die sogenannten „Frankfurter Dokumente“ (können über Google abgerufen werden). Sie zeigen mehr als einmal deutlich die Vorbehaltsrechte auf, die mit den westlichen Mitgliedern des Alliierten Kontrollrats zur Abfassung des Grundgesetzes maßgebend verbunden sind. Es sind vor allem die außenpolitischen und wirtschaftlichen Kontrollrechte. Die Frankfurter Dokumente wurden von Frankreich, England und den Beneluxländern (vor allem Luxemburg) zur Vorbedingung zur Abfassung des Grundgesetzes gemacht.

Der 2+4-Vertrag ist kein Friedensvertrag

Die DDR ist nach Art. 23 GG der BRD beigetreten. Ab der Neufassung von 1990 enthält der Art. 23 nur europarechtliche Kompetenzen. Das Bundesgebiet wird noch nicht einmal erwähnt, lediglich in der Präambel ist es dargestellt. Daraus ergeben sich Fragen, nach denen der Art. 146 GG noch immer existiert:

Es gibt keinen Friedensvertrag. Damit sind auch noch keine Kriegsschäden zu bezahlen; denn die Londoner Schuldenkonferenz hat alle Kriegsentschädigungszahlungen gestundet (seit 1952 Grundbetrag für Kriegsschäden rund 33 Mrd. DM, keine 13 Mrd. DM, wie fälschlicherweise genannt).

Das Bundesverfassungsgericht dürfte eigentlich gar nicht Bundesverfassungsgericht heißen, weil das Grundgesetz ein Provisorium ist. Richtiger wäre zu sagen: ´Bundesgericht zur Frage der Wahrung und Einhaltung des Grundgesetzes`.

Art. 146 GG verlangt eine neue Volksabstimmung. Wer initiiert diese? Wer beruft die verfassungsgebende Nationalversammlung ein? Sind es die Alliierten? Sind es wegen Artikels 23 GG (Neufassung) die Europäischen Staaten? Eine neue Verfassung ist nur mit Volksabstimmung möglich.

Im 2+4-Vertrag steht, daß alle früheren internationalen Verträge in Gültigkeit bleiben. Dazu gehören auch die Frankfurter Dokumente, die das Grundgesetz erst ermöglicht haben. Sie sind ein internationaler Vertrag, dem sich das Grundgesetz automatisch unterstellt hat (Herrenchiemseer Entwurf als verfassungsgebende Nationalversammlung der westlichen Länderregierungen).

Wer ist „das Volk“?

Insoweit haben wir noch immer lediglich eine provisorische Regierung, die erst durch Art. 146 GG ersetzt werden kann. Aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte dürfen die westlichen Alliierten bei uns tun und lassen, was sie wollen. Russland hat sich in seinem Teil dieses ebenfalls vorbehalten, weil die früheren internationalen Verträge in Kraft bleiben.

Eine neue Verfassung, die wirklich alle alliierten Vorbehaltsrechte aus dem Weg räumt, werden die Alliierten nicht zulassen, wenn man die Frankfurter Dokumente Wort für Wort liest. Eine Beseitigung des Grundgesetzes bedeutet eine Beseitigung der Alliierten Vorbehaltsrechte. Vor allem ist völlig offen, wer denn eine neue verfassungsgebende Nationalversammlung einberufen soll. (Wer ist „das Volk“?)

“Einigungsvertrag vom 31.08.1990” 

Schon das Wort Einigungsvertrag ist eine Art subtiler Täuschung; denn der Vertrag regelt lediglich den Beitritt der DDR als Hoheitsgebiet in das Gebiet des “Provisoriums Bundesrepublik Deutschland”. Es ist ein innerdeutscher Staatsvertrag; denn bei einem ausländischen Vertrag – unterstellt, die DDR wäre Ausland gewesen – hätte der Bundespräsident unterschreiben müssen (Art. 59 GG). Für die Bundesrepublik lag vor allem der Vorteil dieses Staatsvertrages darin, daß durch normales parlamentarisches Zustimmungsgesetz (Art. 23 aF GG) der Weg innerhalb von Sekunden durch das Parlament geebnet wurde.

Offen blieben die folgenden Fragen:

Erstens: Wann gibt es endlich eine Verfassung, die den Anforderungen des Art. 146 GG entspricht? Denn der Einigungsvertrag setzt diesen Artikel nicht außer Kraft, er bestätigt ihn sogar in der Neufassung des durch den Beitritt der DDR umgestalteten Grundgesetzes.

Zweitens: Wann endlich gibt es eine internationale Friedenskonferenz, die die noch immer vorhandenen alliierten Vorbehaltsrecht endgültig aufhebt und die wahre Souveränität Deutschlands, auch unter europäischer Kontrolle (vgl. Neufassung des Art. 23 GG), gewährleistet?

„Innere Beschränkung“ der Souveränität

Und drittens: Wer beruft eigentlich die neue verfassungsgebende Nationalversammlung nach Art. 146 GG ein? Es könnten eigentlich nur die früheren alliierten Kontrollmächte sein, wobei der Schwerpunkt bei den westlichen alliierten Kontrollmächten liegt. Diese haben auf der Basis der Haager Landkriegsordnung (HLKO) die sogenannten “Frankfurter Dokumente” den Deutschen als Grundlage für eine verfassungsgebende Nationalversammlung vorgelegt – allerdings eine verfassungsgebende Nationalversammlung sofort weiteren Restriktionen (s. Dokument III) unterworfen.

Die Kompetenzen der neuen Bundesrepublik Deutschland waren also von Anfang durch alliierte Vorbehaltsrechte eingeschränkt. Ich nenne das “innere Beschränkung” der Souveränität. Zwar wurde die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1952-1955 unter Bundeskanzler Adenauer erweitert, die interne Beschränkung der Souveränität wurde jedoch niemals aufgehoben. Eine Kündigung der internationalen Londoner Verträge auf der Basis der Frankfurter Dokumente fand niemals statt.

So besteht das Provisorium Bundesrepublik auch heute noch so, wie es 1948/49 in den Frankfurter Dokumenten festgelegt wurde. Das Grundgesetz heißt noch immer Grundgesetz.

Der Name “Verfassung der Bundesrepublik Deutschland” existiert nicht. Das ergibt sich selbstverständlich eindeutig aus Art. 146 GG, der den Erlaß einer gemeinsamen Nationalverfassung einer besonderen neu zu wählenden Nationalversammlung zuweist. Geschehen ist dazu bisher nichts!

Der 2plus4-Vertrag aus dem Jahre 1990 ist kein Friedensvertrag, er wurde auch nicht als Friedensvertrag bezeichnet, sondern regelt lediglich den Beitritt der DDR nach der bis 1990 geltenden alten Fassung des Art. 23 GG. Die danach erfolgte Gesetzesänderung des Art. 23 GG ist mit vielen schwammigen europarechtlichen Bezügen aufgebauscht; denn das Wort “Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland” taucht darin nicht mehr auf. Lediglich in der Präambel werden die ehemaligen Bundesländer des alten Art. 23 GG erwähnt! Daraus muß man schließen, daß ein neues Staatsgebiet der Bundesrepublik erst über Art. 146 GG definiert werden kann.

Der Begriff “Bundesverfassungsgericht” ist eigentlich falsch, und das allein schon deswegen, weil es keine Bundesverfassung gibt. Es gibt lediglich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Korrekter müßte es heißen: “Oberster Gerichtshof zur Kontrolle der Einhaltung der Regeln des Grundgesetzes” – etwa angenähert an die Begriffe, die für den Bundesgerichtshof für Strafsachen und Zivilsachen, an das Bundesverwaltungsgericht und Bundesarbeitsgericht maßgebend sind, um nur einige Beispiele zu nennen. Es sollte jetzt an der Zeit sein, auf der Basis des neuen Art. 23 GG die neue Souveränität Deutschlands zu diskutieren und dafür verbindliche Regeln festzulegen. Eigentlich ist es jetzt an der Zeit, außerhalb des neuen Art. 23 GG über die wirkliche Souveränität Deutschlands zu sprechen und verbindliche Regeln festzulegen.

Das letzte Kapitel des Buches befaßt sich sehr kritisch mit der  Politik bez. der „Nord Stream-Pipelines, der EU und der Souveränität“. Sei´s drum! Diese Kritik muß man aushalten; denn die Schlußfrage der Autoren ist sehr berechtigt:

„Was wären die Maßnahmen der EU, wenn wir uns weigern würden, diesen Boykott mitzutragen, der bekanntlich Russland mehr nützt als schadet und vor allem der Deutschen Bevölkerung Schaden zufügt?“

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*) „Das aktuelle „Besatzungsrecht“ in Deutschland und die Souveränitätsfrage“, Band 3: „Die Europäische Union (EU) und die Souveränitätsfrage“, S, Duisburg, ISBN-10: 3-927773-62-X bzw. ISBN-13: 978-3-927773-62-2, Juli 2022, 220 S., Preis 28,50 €

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