Putins Rede: „Schwindendes kreatives Potenzial des Westens“

Peter Helmes

Eine Vorbemerkung: Wladimir Putin hielt am Donnerstag, 27. Oktober 2022, während eines viertägigen Treffens in Moskau eine vielbeachtete Rede – die sog. Valdai-Rede –, in der er sich vor allem kritisch mit der unipolaren Weltordnung befaßte. An dem „Forum“ nahmen 111 Experten, Politiker, Diplomaten und Wirtschaftswissenschaftler aus Russland und 40 anderen Ländern teil.

conservo wird seit Bestehen des Blogs immer wieder wegen seiner transatlantischen Orientierung kritisiert – was auch nach Übernahme der Herausgeberschaft durch Michael van Laack so geblieben ist. Das ist für mich weder überraschend noch irritierend; denn ich habe mich als Gründer von conservo immer wieder und stets deutlich zur westlichen Gemeinschaft und zu einem geeinten (aber nicht Einheits-)Europa bekannt, das im westlichen Bündnis Schutz und Vertrauen genießt.

Allerdings habe ich stets darauf geachtet, daß andere Meinungen nicht unterdrückt werden. Und so ist es für mich auch selbstverständlich, die Valdai-Rede Putins hier wiederzugeben. Da jeder aufmerksame Leser meine Einstellung zum Russland-Feldzug gegen die Ukraine kennt, habe ich darauf verzichtet, Putins in der Tat beachtenswerte Rede zu kommentieren. Die Leser jedoch sind herzlich eingeladen, ihre Meinung im Kommentarbereich zu äußern.

Mit besten Grüßen

Peter Helmes

Hier nun in deutscher Übersetzung der ungekürzte und unkommentierte Text der Rede Putins:

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„Die Errichtung der bedingungslosen Dominanz des Westens über die Weltwirtschaft und Weltpolitik“

„Meine Damen und Herren, liebe Freunde,

ich hatte die Gelegenheit, mir ein Bild von dem zu machen, was Sie hier in den letzten Tagen diskutiert haben. Es war eine interessante und gehaltvolle Diskussion. Ich hoffe, daß Sie es nicht bereuen, nach Russland gekommen zu sein, um sich untereinander auszutauschen.

Ich freue mich, Sie alle zu sehen. Wir haben die Plattform des Valdai-Clubs mehr als einmal genutzt, um die großen und schwerwiegenden Veränderungen zu erörtern, die in der Welt bereits stattgefunden haben und noch stattfinden, sowie die Risiken, die sich aus der Schwächung der globalen Institutionen, Aushöhlung der Grundsätze der kollektiven Sicherheit und Substituierung des Völkerrechts durch „Regeln“ ergeben. Ich war versucht zu sagen: „Wir sind uns darüber im Klaren, wer sich diese Regeln ausgedacht hat, aber das wäre vielleicht nicht die richtige Aussage. Wir haben keinerlei Ahnung, wer sich diese Regeln ausgedacht hat, worauf diese Regeln beruhen oder was in diesen Regeln enthalten ist.

Das Leben ist der objektivste Lehrmeister

Es sieht so aus, als ob wir Zeugen eines Versuchs sind, nur eine einzige Regel durchzusetzen, nach der die Mächtigen – wir sprachen von Macht, und ich spreche jetzt von globaler Macht – leben könnten, ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten, und mit allem davonzukommen. Das sind die Regeln, auf die sie, wie man sagt, ständig pochen, d.h. unaufhörlich darüber sprechen.

Die Valdai-Diskussionen sind wichtig, weil man hier eine Vielzahl von Einschätzungen und Prognosen zu hören bekommt. Das Leben zeigt immer, wie richtig sie lagen, denn das Leben ist der strengste und objektivste Lehrmeister. So zeigt das Leben, wie genau die Prognosen der vergangenen Jahre zutrafen.

Leider folgen die Ereignisse weiterhin einem negativen Trend, wie wir bei unseren früheren Treffen mehr als einmal erörtert hatten. Darüber hinaus haben sie sich zu einer größeren systemweiten Krise ausgeweitet, die sich nicht nur auf den militärisch-politischen, sondern auch auf den wirtschaftlichen und humanitären Bereich erstreckt.

Der Westen suchte die Eskalation

Der sogenannte Westen, der natürlich ein theoretisches Konstrukt darstellt, weil er nicht geeint ist und es sich eindeutig um ein hochkomplexes Konglomerat handelt, hat in den letzten Jahren und vor allem in den letzten Monaten eine Reihe von Schritten unternommen, die auf eine Eskalation der Situation abzielen. Sie versuchen eigentlich immer, die Dinge zu verschärfen, was auch nichts Neues ist.

Dazu gehören das Schüren des Krieges in der Ukraine, die Provokationen rund um Taiwan und die Destabilisierung der globalen Lebensmittel- und Energiemärkte. Letzteres geschah natürlich nicht mit Absicht, das steht außer Zweifel. Die Destabilisierung des Energiemarktes war das Ergebnis einer Reihe systemischer Fehlleistungen westlicher Behörden, wie ich eingangs erwähnt hatte. Wie wir jetzt sehen, wurde die Situation durch die Zerstörung der paneuropäischen Gaspipelines noch verschärft. Das alles klingt jenseitig, aber wir wurden dennoch Zeugen dieser traurigen Entwicklungen.

Die globale Macht ist genau das, um was es dem sogenannten Westen bei seinem Spiel geht. Aber dieses Spiel ist ganz sicher gefährlich, blutig und, ich würde sagen, schmutzig. Es setzt sich über die Souveränität der Länder und Völker, deren Identität und Einzigartigkeit hinweg und tritt die Interessen anderer Staaten mit Füßen. Auch wenn das Wort „Aberkennung“ nicht verwendet wird, tun sie es stets im realen Leben. Niemand außer denen, welche die erwähnten Regeln aufstellten, sind berechtigt, ihre Identität zu bewahren: Alle anderen haben sich diesen Regeln zu fügen.

Krise hat globale Dimensionen erreicht

In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an die Vorschläge Russlands an unsere westlichen Partner erinnern, um Vertrauen und ein kollektives Sicherheitssystem aufzubauen. Sie wurden im Dezember 2021 einmal mehr nur verworfen.

Doch Aussitzen kann in der modernen Welt kaum noch funktionieren. Wer den Wind sät, wird den Sturm ernten, so ein Sprichwort. Die Krise hat in der Tat globale Dimensionen erreicht und jeden getroffen. Darüber darf man sich keine Illusionen hingeben.

Die Menschheit steht an einer Wegkreuzung: Entweder sie läßt die Probleme weiter akkumulieren und wird schließlich unter ihrer Last zerbrechen, oder sie arbeitet gemeinsam an Lösungen – auch an unvollkommenen, solange sie funktionieren –, die unsere Welt stabiler und sicherer machen.

Ich habe immer an die Kraft des gesunden Menschenverstands geglaubt

Wissen Sie, ich habe immer an die Kraft des gesunden Menschenverstands geglaubt. Deshalb bin ich davon überzeugt, daß früher oder später sowohl die neuen Zentren der multipolaren Weltordnung als auch der Westen einen Dialog auf Augenhöhe über eine gemeinsame Zukunft für uns alle aufnehmen müssen – je früher, desto besser natürlich. In diesem Zusammenhang möchte ich einige der wichtigsten Aspekte für uns alle herausstreichen.

Die aktuellen Entwicklungen haben Umweltfragen in den Hintergrund gedrängt. So seltsam es klingen mag, aber genau darüber möchte ich heute zuerst sprechen. Der Klimawandel steht nicht mehr ganz oben auf der Tagesordnung. Aber diese grundlegende Herausforderung ist nicht verschwunden, sie ist immer noch da, und sie nimmt zu.

Der Verlust biologischer Artenvielfalt ist eine der gefährlichsten Folgen der Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. Damit komme ich zu dem zentralen Punkt, wegen dem wir alle hier zusammengekommen sind. Ist es nicht ebenso wichtig, die kulturelle, soziale -, politische – und zivilisatorische Vielfalt beizubehalten?

Die Blindheit des Westens

Gleichzeitig bedeutet Nivellierung und Auslöschung aller Unterschiede im Wesentlichen das, was den modernen Westen ausmacht. Was steht dahinter? In erster Linie das schwindende kreative Potenzial des Westens und sein Wunsch, die freie Entwicklung anderer Zivilisationen zu hemmen und zu blockieren.

Natürlich gibt es auch ein offen geschäftliches Interesse. Indem sie anderen ihre Werte, Konsumgewohnheiten und Standardisierung aufzwingen, versuchen unsere Gegner – ich werde meine Worte mit Vorsicht wählen – die Märkte für ihre Produkte zu erweitern. Das damit verfolgte Ziel ist letztlich sehr primitiv. Es ist bemerkenswert, daß der Westen den universellen Wert seiner Kultur und Weltanschauung verkündet. Auch wenn sie dies nicht so offen ansprechen und oft so tun, handeln sie so, als ob es Bestandteil des Lebens wäre, indem die von ihnen betriebene Politik zeigen soll, daß diese Werte von allen anderen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft bedingungslos akzeptieren werden müßten.

Ich möchte aus der berühmten Harvard-Abschlußansprache von Alexander Solschenizyn aus dem Jahr 1978 zitieren. Er sagte, typisch für den Westen sei, „eine notorische Blindheit an Überlegenheit“ – und sie hält bis heute an –, die „den Glauben hochhält, daß weite Landstriche überall auf unserem Planeten sich nach dem heutigen westlichen System zu entwickeln und reifen hätten“. Das sagte er 1978. Daran hat sich nichts verändert.

Vernichtung durch Cancel Culture

In den fast 50 Jahren, die seither vergangen sind, hat die Blindheit, von der Solschenizyn sprach und die offen rassistisch und neokolonialistisch ist, besonders deformierte Formen angenommen, insbesondere nach dem Entstehen der so genannten unipolaren Welt (Ordnung). Worauf beziehe ich mich? Der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit ist sehr gefährlich; er ist nur einen Schritt entfernt von dem Wunsch der Unfehlbaren, diejenigen zu vernichten, die ihnen nicht gefallen, oder, wie sie sagen, ihrem Wunsch sie zu annullieren („cancel culture“). Denken Sie einmal über die Bedeutung dieses Wortes nach.

Selbst auf dem absoluten Höhepunkt des Kalten Krieges, dem Höhepunkt der Konfrontation der beiden Systeme, ihrer Ideologien und militärischen Rivalität, kam es niemandem in den Sinn, die Existenz der Kultur, der Kunst und der Wissenschaft anderer Völker oder ihrer Gegner, abzuerkennen. Es kam auch niemandem in den Sinn. Ja, es gab gewisse Einschränkungen bei den Kontakten in Bildung, Wissenschaft, Kultur und leider auch im Sport. Doch, gleichwohl verstanden sowohl die sowjetische als auch die amerikanische Führung, daß es notwendig war, den humanitären Bereich taktvoll zu behandeln, ihren Rivalen zu erforschen und zu respektieren und manchmal sogar von ihm zu lernen, um zumindest eine Grundlage für solide, produktive Beziehungen in der Zukunft zu sicherzustellen.

Der totalitäre Liberalismus

Und was geschieht heute? Einst gingen die Nazis so weit, Bücher zu verbrennen, und jetzt sind die westlichen „Hüter des Liberalismus und des Fortschritts“ so weit, Dostojewski und Tschaikowski zu verbieten. Die sogenannte „Annullierung der Kultur“ (Cancel Culture) und in Wirklichkeit – wie wir schon oft gesagt haben – die wirkliche Abschaffung der Kultur besteht darin, alles Lebendige und Kreative auszurotten und das freie Denken in allen Bereichen, sei es in der Wirtschaft, der Politik oder Kultur, zu ersticken.

Heute hat sich die liberale Ideologie selbst bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Verstand man unter klassischem Liberalismus zunächst die Freiheit eines jeden Menschen, zu tun und zu sagen, was er will, so begannen die Liberalen im 20. Jahrhundert, Feinde der sogenannten offenen Gesellschaft zu benennen, deren Freiheit zu limitieren, wenn nicht zu beseitigen. Es hat den absurden Punkt erreicht, an dem jede alternative Meinung zu subversiver Propaganda und einer Bedrohung der Demokratie erklärt wird.

Alles, was aus Russland kommt, wird als „Kreml-Intrigen“ gebrandmarkt. Aber sehen Sie sich es selbst an. Sind wir wirklich so allmächtig? Jede Kritik an unseren Gegnern – jede – wird als „Kreml-Intrige“ oder als „die Hand des Kremls“ wahrgenommen. Das ist wahnwitzig. Wie tief sind sie gesunken? Sie sollten hingegen Ihren Verstand benutzen, etwas Interessanteres zu artikulieren oder ihren Standpunkt konzeptionell darzulegen. Man kann nicht alles auf Intrigen des Kremls schieben.

Von grenzenloser Freiheit zu grenzenloser Willkür

Fjodor Dostojewski hat das alles schon im 19. Jahrhundert prophetisch vorausgesagt. Eine der Figuren seines Romans „Dämonen“, der Nihilist Schigalew, beschrieb die strahlende Zukunft, die er sich vorstellte, folgendermaßen: „Von der grenzenlosen Freiheit ausgehend, ende ich mit grenzenloser Willkür.“ Das ist es, wo unsere westlichen Gegner angekommen sind. Eine andere Figur des Romans, Pjotr Werchowenskj, spricht von der Notwendigkeit des allgemeinen Verrats, Meldeerstattung und Spionage und behauptet, daß die Gesellschaft keine Talente oder größeren Fähigkeiten benötigt: „Ciceros Zunge wird herausgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen und Shakespeare wird gesteinigt. Das ist es, worauf unsere westlichen Gegner hinauswollen. Was ist das, wenn nicht westliche Annullierungskultur?

Das waren große Denker, und ich bin, offen gesagt, meinen Helfern gegenüber dankbar, daß sie diese Zitate ausfindig machten. Was soll man dazu sagen? Die Geschichte wird mit Sicherheit alles an seinen Platz weisen und wissen, wen sie zu annullieren hat, und das werden mit Sicherheit nicht die größten Werke universal anerkannter Genies der Weltkultur sein, sondern diejenigen, die aus irgendeinem Grund sich das Recht zuerkannten, Weltkultur nach ihrem Belieben zu verwenden. Ihr Selbstwertgefühl kennt wirklich keine Grenzen. In ein paar Jahren wird sich niemand mehr an ihre Namen erinnern. Aber Dostojewski wird weiterleben, ebenso wie Tschaikowsky und Puschkin, so sehr sie sich auch das Gegenteil wünschten.

Das neokoloniale Modell der Globalisierung

Standardisierung, finanzielle und technologische Monopolisierung, die Auslöschung aller Unterschiede – das ist es, was dem westlichen Modell der Globalisierung zugrunde liegt, das von Natur aus neokolonial ist. Ihr Ziel war klar: Die Errichtung der bedingungslosen Dominanz des Westens über die Weltwirtschaft und Weltpolitik. Zu diesem Zweck stellte der Westen die natürlichen und finanziellen Ressourcen des gesamten Planeten sowie alle intellektuellen, menschlichen und wirtschaftlichen Fähigkeiten in seinen Dienst, während er behauptet, dies sei ein natürliches Merkmal der sogenannten neuen globalen Interdependenzen.

An dieser Stelle möchte ich an einen anderen russischen Philosophen erinnern, Alexander Sinowjew, dessen hundertsten Geburtstag wir am 29. Oktober begehen. Vor mehr als 20 Jahren sagte er, daß die westliche Zivilisation als Mittel zur Existenz den gesamten Planeten und alle Ressourcen der Menschheit benötigt, um auf dem erreichten Niveau zu überleben. Das ist es, was sie wollen, das ist exakt das, was es ist.

Darüber hat sich der Westen von Beginn an einen riesigen Vorsprung in diesem System gesichert, weil er die Prinzipien und Mechanismen aufstellte – so wie die Regeln heute, von denen sie andauernd sprechen, die jedoch ein unverständliches schwarzes Loch bleiben, weil niemand wirklich weiß, wie sie lauten. Doch, sobald Nicht-Westliche-Länder begannen, von der Globalisierung zu profitieren, vor allem die großen Nationen in Asien, hat der Westen viele dieser Regeln sofort geändert oder ganz abgeschafft. Und die so genannten heiligen Prinzipien des Freihandels, der wirtschaftlichen Offenheit, des gleichen Wettbewerbs und sogar der Eigentumsrechte waren plötzlich völlig vergessen. Sie ändern die Regeln im Vorbeigehen, auf der Stelle, wenn immer sie eine Gelegenheit für sich erkennen.

Hier ein weiteres Beispiel für den Austausch von Begriffen und Bedeutungen. Viele Jahre lang haben westliche Ideologen und Politiker der Welt erzählt, es gäbe keine Alternative zur Demokratie. Damit meinten sie freilich das westliche, das so genannte liberale Demokratiemodell. Alle anderen Varianten und Formen der Volksherrschaft lehnten sie arrogant ab, und zwar, das möchte ich betonen, mit Verachtung und Geringschätzung. Dieses Verhalten hat sich seit Kolonialzeiten herausgebildet, als ob alle Menschen zweitklassig wären, während nur sie selbst eine Ausnahme bildeten. Das geht schon seit Jahrhunderten so und hält bis heute an.

Demokratische Grundsätze in internationalen Beziehungen

Gegenwärtig fordert eine überwältigende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft Demokratie in internationalen Angelegenheiten und lehnt jede Form von autoritärem Diktat durch einzelne Länder oder Ländergruppen ab. Was ist das, wenn nicht die direkte Anwendung demokratischer Grundsätze in internationalen Beziehungen?

Welche Haltung nimmt der „zivilisierte“ Westen dazu ein? Falls sie Demokraten wären, sollten Sie den natürlichen Freiheitsdrang der Milliarden an Menschen begrüßen, aber nein: Der Westen nennt es Untergrabung der liberalen, auf Regeln basierten Ordnung. Er greift auf Wirtschafts- und Handelskriege, Sanktionen, Boykotte und farbige Revolutionen zurück und bereitet alle Arten von Umstürzen vor und führt sie auch durch.

Einer davon führte 2014 in der Ukraine zu tragischen Folgen. Sie haben den Putsch unterstützt und sogar angegeben, wie viel Geld sie dafür ausgegeben hatten. Sie haben die Dreistigkeit zu handeln, wie es ihnen gefällt, und zeigen keinerlei Skrupel bei all ihrem Tun. Sie töteten (Qasem) Soleimani, einen iranischen General. Man kann über Soleimani denken, wie man will, aber er war ein ausländischer Staatsoffizieller. Sie haben ihn in einem Drittland getötet und die Verantwortung dafür übernommen. Was soll das heißen, um Himmels willen? In was für einer Welt leben wir eigentlich?

US-Repressionen und Sanktionen sogar gegen Verbündete

Wie üblich bezeichnet Washington die derzeitige internationale Ordnung als liberal-amerikanisch, aber in Wirklichkeit vervielfacht diese berüchtigte „Ordnung“ täglich das Chaos und wird sogar gegenüber den westlichen Ländern und ihren Versuchen, unabhängig zu handeln, immer intoleranter. Alles wird im Keim erstickt, und sie zögern nicht einmal, Sanktionen gegen ihre eigenen Verbündeten zu verhängen, die mit gesenkten Köpfen solchem Treiben einwilligen.

So wurden beispielsweise die Vorschläge der ungarischen Abgeordneten im Juli (dieses Jahres), das Bekenntnis zu den europäischen christlichen Werten und zur europäischen Kultur im Vertrag zur Europäischen Union zu verankern, nicht einmal als Affront, sondern als offener und feindseliger Sabotageakt aufgefaßt. Was bedeutet das? Was soll das bedeuten? Manchen mag es gefallen, anderen nicht.

Im Laufe von tausend Jahren hat Russland eine einzigartige Kultur der Wechselbeziehung zwischen allen Weltreligionen entwickelt. Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu streichen, seien es christliche Werte, islamische Werte oder jüdische Werte. Wir haben auch andere Weltreligionen. Alles, was man tun muß, ist, sich gegenseitig zu respektieren. In einigen unserer Regionen – das weiß ich aus erster Hand – feiern die Menschen christliche, islamische, buddhistische und jüdische Feiertage gemeinsam, und sie tun das gerne, weil sie sich gegenseitig gratulieren und sich füreinander freuen.

Aber hier nicht. Warum eigentlich nicht? Zumindest könnten sie darüber diskutieren. Erstaunlich!

Über die doktrinäre Systemkrise des neoliberalen Modells

Ohne Übertreibung handelt es sich hier nicht einmal um eine systemische, sondern um eine doktrinäre Krise des neoliberalen Modells der internationalen Ordnung amerikanischer Prägung. Sie haben keine Ideen für Fortschritt und positive Entwicklung. Sie haben der Welt einfach nichts zu bieten, außer die Weiterführung ihrer Vorherrschaft.

Ich bin davon überzeugt, daß echte Demokratie in einer multipolaren Welt in erster Linie von der Fähigkeit jeder Nation – ich betone – jeder Gesellschaft oder Zivilisation abhängt, ihren eigenen Weg zu beschreiten und ihr eigenes sozio-politisches System zu organisieren. Wenn die Vereinigten Staaten oder die EU-Länder dieses Recht beanspruchen, dann haben die Länder Asiens, die islamischen Staaten, die Monarchien am Persischen Golf und die Länder auf anderen Kontinenten sicherlich auch dieses Recht. Natürlich hat auch unser Land, Russland, dieses Recht, und niemand wird unserem Volk jemals vorschreiben können, welche Art von Gesellschaft wir aufbauen und auf welchen Prinzipien sie beruhen soll.

Eine unmittelbare Bedrohung für das politische, wirtschaftliche und ideologische Monopol des Westens besteht darin, daß die Welt alternative Gesellschaftsmodelle hervorbringen kann, die wirksamer – ich möchte betonen: wirksamer, intelligenter und attraktiver sind als die gegenwärtigen. Diese Modelle werden mit Sicherheit zustande kommen. Das ist unvermeidlich. Übrigens schreiben auch amerikanische Politikwissenschaftler und Analysten darüber. Ehrlich gesagt, hört ihre Regierung nicht auf das, was sie sagen, obwohl sie nicht umhinkönnen, diese Konzepte in politikwissenschaftlichen Zeitschriften und Diskussionen wahrzunehmen.

Gemeinsames Fundament für die Zukunft der Menschheit

Die Entwicklung sollte sich auf einen Dialog zwischen den Zivilisationen und geistigen und moralischen Werten stützen. In der Tat können sich Auffassungen von Zivilisationen dahin gehend unterscheiden, was den Menschen und sein Wesen ausmacht, aber diese Unterschiede sind oft nur oberflächlich, doch alle erkennen letztendlich die Würde und das spirituelle Wesen des Menschen an. Ein gemeinsames Fundament, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen können und müssen, ist von entscheidender Bedeutung.

Hier möchte ich etwas betonen. Traditionelle Werte sind kein starres Postulat, an das sich jeder halten muß, natürlich nicht. Der Unterschied zu den so genannten neoliberalen Werten besteht darin, daß sie in jedem einzelnen Fall einzigartig sind, weil sie auf den Traditionen einer bestimmten Gesellschaft, ihrer Kultur und ihrem historischen Hintergrund beruhen. Deshalb kann man traditionelle Werte niemandem aufzwingen. Sie müssen einfach respektiert werden, und alles, was jede Nation im Laufe der Jahrhunderte für sich selbst gewählt hat, muß mit Sorgfalt behandelt werden.

So verstehen wir die traditionellen Werte, und die Mehrheit der Menschheit teilt und akzeptiert unseren Ansatz. Das ist verständlich, denn die traditionellen Gesellschaften des Ostens, Lateinamerikas, Afrikas und Eurasiens bilden die Grundlage der Weltzivilisation.

Die Achtung der Sitten und Gebräuche von Völkern und Zivilisationen liegt im Interesse aller. Dies liegt auch im Interesse des „Westens“, der auf der internationalen Bühne schnell zu einer Minderheit wird, da er seine Vormachtstellung verliert. Natürlich muß das Recht der westlichen Minderheit auf eine eigene kulturelle Identität – das möchte ich betonen – gewährleistet und respektiert werden, aber vor allem gleichberechtigt mit den Rechten aller anderen Nationen.

Über die Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer

Wenn die westlichen Eliten glauben, daß sie ihre Menschen und ihre Gesellschaften dazu bringen können, die meiner Meinung nach seltsamen und trendigen Ideen wie Dutzende von Geschlechtern oder Schwulenparaden anzunehmen, dann soll es so sein. Sollen sie doch machen, was sie wollen. Aber sie haben sicherlich nicht das Recht, anderen vorzuschreiben, in ihre Fußstapfen zu treten.

Wir sehen die komplizierten demografischen, politischen und sozialen Prozesse, die in den westlichen Ländern stattfinden. Das ist natürlich ihre eigene Angelegenheit. Russland mischt sich nicht in solche Angelegenheiten ein und hat auch nicht die Absicht, dies zu tun. Anders als der Westen kümmern wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten. Aber wir hoffen, daß der Pragmatismus siegen wird und der Dialog Russlands mit dem echten, traditionellen Westen sowie mit anderen ebenbürtigen Entwicklungszentren einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer multipolaren Weltordnung leisten wird.

Multipolarität der Welt – die echte und einzige Chance

Ich füge hinzu, daß die Multipolarität eine echte und eigentlich die einzige Chance für Europa ist, seine politische und wirtschaftliche Identität wiederherzustellen. Um die Wahrheit zu sagen – und dieser Gedanke wird heute in Europa ausdrücklich geäußert – ist die Rechtsfähigkeit Europas sehr begrenzt. Ich habe versucht, es milde auszudrücken, um niemanden zu beleidigen.

Die Welt ist von Natur aus vielfältig, und die Versuche des Westens, alle in das gleiche Schema zu pressen, sind eindeutig zum Scheitern verurteilt. Es wird nichts dabei herauskommen.

Das eitle Streben nach globaler Vorherrschaft und im Wesentlichen nach Diktat bzw. dem Erhalt der Führungsrolle durch Diktat schmälert in der Tat das internationale Ansehen der führenden Politiker der westlichen Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten, und verstärkt generell das Mißtrauen gegenüber ihrer Verhandlungsfähigkeit. Sie sagen heute das eine und morgen das andere; sie unterzeichnen Dokumente und widerrufen sie, sie machen, was sie wollen. Es gibt keine Stabilität in irgendetwas. Wie Dokumente unterzeichnet werden, was besprochen wurde, worauf wir hoffen können – all das ist völlig unklar.

Früher haben es nur wenige Länder gewagt, mit Amerika zu streiten, und es sah fast sensationell aus, während es jetzt zur Routine geworden ist, daß alle möglichen Staaten die unbegründeten Forderungen Washingtons zurückweisen, obwohl Washington weiterhin versucht, Druck auf alle auszuüben. Das ist eine verfehlte Politik, die zu nichts führt. Aber lassen Sie sie – auch das bleibt ihre Wahl.

Ich bin überzeugt, daß die Völker der Welt ihre Augen vor einer Politik des Zwangs nicht verschließen werden, die sich selbst diskreditiert hat. Jedes Mal wird der Westen einen höheren Preis für seine Versuche zahlen müssen, seine Hegemonie zu bewahren. Wäre ich eine westliche Elite, würde ich diesen Aspekt ernsthaft abwägen. Wie ich bereits sagte, denken einige Politikwissenschaftler und Politiker in den Vereinigten Staaten bereits darüber nach.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen des intensiven Konflikts werde ich bestimmte Dinge direkt ansprechen. Als unabhängige und eigenständige Zivilisation hat sich Russland nie als Feind des Westens gesehen und sieht sich auch nicht als solcher. Amerikafeindlichkeit, Anglophobie, Frankophobie und Germanophobie sind die gleichen Formen von Rassismus wie Russophobie oder Antisemitismus und im Übrigen auch Fremdenfeindlichkeit in all ihren Erscheinungen.

Es gibt mindestens zwei Formen des Westens

Man muß sich einfach darüber im Klaren sein, daß es, wie ich bereits erwähnte, zwei Westen gibt – mindestens zwei, vielleicht auch mehr, aber mindestens zwei –, den Westen der traditionellen, vor allem christlichen Werte, der Freiheit, des Patriotismus, der großen Kultur und jetzt auch der islamischen Werte – ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in vielen westlichen Ländern folgt dem Islam. Dieser Westen ist uns in gewisser Weise nahe. Wir teilen mit ihm gemeinsame, sogar uralte Wurzeln. Aber es gibt auch einen anderen Westen – aggressiv, kosmopolitisch und neokolonial. Er agiert als Werkzeug der neoliberalen Eliten. Natürlich wird Russland niemals mit den Diktaten eines solchen Westens übereinstimmen.

Nachdem ich im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, werde ich mich immer daran erinnern, was mich erwartete: Ich werde mich an den Preis erinnern, den wir für die Zerschlagung der Höhlen des Terrorismus im Nordkaukasus gezahlt haben, die der Westen zu jener Zeit beinahe offen unterstützte. Wir alle hier sind Erwachsene; die meisten von Ihnen in diesem Saal verstehen, wovon ich spreche. Wir wissen, daß genau das in der Praxis geschah: finanzielle, politische und informationelle Unterstützung. Wir alle haben es durchgemacht.

Der Westen hat Terrorismus nicht nur unterstützt

Mehr noch, der Westen hat Terroristen auf russischem Territorium nicht nur aktiv unterstützt, sondern diese Bedrohung in vielerlei Hinsicht großgezogen. Das wissen wir. Dennoch haben wir, nachdem sich die Lage stabilisiert hatte und die wichtigsten Terrorbanden auch dank der Tapferkeit des tschetschenischen Volkes besiegt worden waren, beschlossen, nicht umzukehren, nicht die Beleidigten zu spielen, sondern vorwärts zu gehen, Beziehungen auch zu denjenigen aufzubauen, die tatsächlich gegen uns vorgingen, Beziehungen zu allen zu knüpfen und zu entwickeln, die dies wollten, auf der Grundlage des gegenseitigen Nutzens und gegenseitiger Achtung.

Wir dachten, das sei im Interesse aller. Russland hatte, Gott sei Dank, alle Schwierigkeiten dieser Zeit überstanden, war standhaft, wurde stärker, konnte mit dem Terrorismus von innen und außen fertig werden, seine Wirtschaft blieb erhalten, es begann sich zu entwickeln und seine Verteidigungsfähigkeit wurde immer besser. Wir haben versucht, Beziehungen zu den führenden Ländern des Westens und zur NATO aufzubauen. Die Botschaft war dieselbe: Laßt uns aufhören, Feinde zu sein, laßt uns als Freunde zusammenleben, laßt uns den Dialog aufnehmen, laßt uns Vertrauen und damit Frieden schaffen. Wir waren absolut aufrichtig, das möchte ich betonen. Wir waren uns über die Komplexität dieser Annäherung im Klaren, aber wir haben ihr zugestimmt.

Das Ziel des Westens hieß Vernichtung – nicht Kooperation

Was haben wir als Antwort erhalten? Kurz gesagt, wir erhielten ein „Nein“ in allen wichtigen Bereichen der möglichen Zusammenarbeit. Wir erfuhren einen immer stärkeren Druck gegen uns mit Spannungsherden in der Nähe unserer Grenzen. Und was, wenn ich fragen darf, ist der Zweck dieses Drucks? Worin besteht er? Ist er nur zur Übung da? Nein, natürlich nicht. Das Ziel war es, Russland verwundbarer zu machen. Das Ziel besteht darin, Russland zu einem Werkzeug zu machen, um die eigenen geopolitischen Ziele zu erreichen.

Tatsächlich ist dies eine universelle Regel: Sie versuchen, jeden zu einem Werkzeug zu machen, um diese Werkzeuge für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Und diejenigen, die sich diesem Druck nicht beugen, die kein solches Werkzeug abgeben wollen, werden sanktioniert: Es werden alle möglichen wirtschaftlichen Restriktionen gegen sie und in Bezug auf sie durchgeführt, Putsche werden vorbereitet oder wenn möglich durchgeführt und so weiter. Und am Ende, wenn gar nichts getan werden kann, ist das Ziel dasselbe: sie zu vernichten, sie von der politischen Landkarte zu tilgen. Aber es ist nicht möglich und wird auch nie möglich sein, ein solches Szenario in Bezug auf Russland zu konzipieren und auszuführen.

Was kann ich noch hinzufügen? Russland fordert die westlichen Eliten nicht heraus. Russland hält lediglich sein Recht auf Existenz und freie Entwicklung hoch. Wesentlich ist, daß wir selbst kein neuer Hegemon werden. Russland versucht nicht, eine unipolare Welt durch eine bipolare, tripolare oder andere dominierende Ordnung oder die westliche Vorherrschaft durch eine Vorherrschaft aus dem Osten, Norden oder Süden ersetzen zu wollen. Dies würde unweigerlich in eine weitere Sackgasse führen.

Es gilt, Fortschritt in alle Richtungen zu betreiben

An dieser Stelle möchte ich die Worte des großen russischen Philosophen Nikolai Danilewski zitieren. Er war der Meinung, der Fortschritt bestehe nicht darin, daß alle in die gleiche Richtung gehen, wie es einige unserer Gegner zu wollen scheinen. Dies würde nur dazu führen, daß der Fortschritt zum Stillstand kommt, so Danilewski. Der Fortschritt, sagte er, bestehe darin, „das Feld, das die historische Aktivität der Menschheit darstellt, in alle Richtungen zu durchschreiten“, und fügte hinzu, daß sich keine Zivilisation anmaßen sollte, den Höhepunkt der Entwicklung darzustellen.

Ich bin überzeugt, daß Diktatur nur durch die freie Entwicklung der Länder und Völker begegnet werden kann; die Entwürdigung des Individuums kann durch die Liebe des Menschen als Schöpfer überwunden werden; primitive Vereinfachung und Verbote können durch die florierende Komplexität von Kultur und Tradition ersetzt werden.

Die Bedeutung des heutigen historischen Moments liegt in den Möglichkeiten eines demokratischen und eigenständigen Entwicklungsweges eines jeden, der sich gegenüber allen Zivilisationen, Staaten und Vereinigung der Integration auftut. Wir glauben vor allem, daß die neue Weltordnung auf Recht und Gesetz beruhen und frei, unverwechselbar und fair sein muß.

Mißbrauch globaler Finanzstrukturen unterbinden!

Auch die Weltwirtschaft und der Handel müssen fairer und offener werden. Russland hält die Schaffung neuer internationaler Finanzplattformen für unumgänglich; dies schließt internationale Transaktionen ein. Diese Plattformen sollten über den nationalen Gerichtsbarkeiten stehen. Sie sollten sicher, entpolitisiert und automatisiert sein und nicht von einem einzigen Kontrollzentrum abhängen. Ist dies nun möglich oder nicht? Natürlich ist es möglich. Es wird jedoch große Anstrengungen erfordern. Viele Länder werden ihre Anstrengungen bündeln müssen, aber es ist möglich.

Dies schließt die Möglichkeit des Mißbrauchs in einer neuen globalen Finanzinfrastruktur aus. Sie würde es ermöglichen, effektive, vorteilhafte und sichere internationale Transaktionen ohne den Dollar oder eine der sogenannten Reservewährungen durchzuführen. Dies ist umso wichtiger, als der Dollar jetzt als Waffe eingesetzt wird; die Vereinigten Staaten und der Westen im Allgemeinen haben die Institution der internationalen Finanzreserven diskreditiert. Zuerst haben sie diese durch Inflation in der Dollar- und Eurozone entwertet und dann unsere Gold- und Währungsreserven genommen.

Über die Notwendigkeit einer neuen Finanzpolitik

Der Übergang zu Transaktionen in nationalen Währungen wird schnell an Dynamik gewinnen. Das ist unvermeidlich. Natürlich hängt es vom Status der Emittenten dieser Währungen und dem Zustand ihrer Volkswirtschaften ab, aber sie werden stärker werden, und diese Transaktionen werden sich zwangsläufig allmählich gegenüber den anderen durchsetzen. Dies ist die Logik einer souveränen Wirtschafts- und Finanzpolitik in einer multipolaren Welt.

Darüber hinaus verfügen die neuen globalen Entwicklungszentren bereits über unübertroffene Technologie und Forschung in verschiedenen Bereichen und können in vielen Bereichen erfolgreich mit westlichen transnationalen Unternehmen konkurrieren.

Es liegt auf der Hand, daß wir ein gemeinsames und sehr pragmatisches Interesse an einem freien und offenen wissenschaftlichen und technologischen Austausch haben. Wenn wir uns zusammentun, können wir mehr gewinnen, als wenn wir getrennt handeln. Die Mehrheit sollte von diesem Austausch profitieren, nicht einzelne superreiche Konzerne.

Wie sieht es heute aus? Wenn der Westen Medikamente oder Saatgut an andere Länder verkauft, sagt er ihnen, sie sollen ihre nationalen Pharmaindustrien und Auswahl vernichten. Im Grunde läuft es darauf hinaus, daß seine Lieferungen an Werkzeugmaschinen und Ausrüstungen die einheimische Maschinenbauindustrie zerstören. Das habe ich schon zu meiner Zeit als Premierminister erkannt. Sobald man seinen Markt für eine bestimmte Produktgruppe öffnet, geht der lokale Hersteller sofort unter, und es ist fast unmöglich für ihn, wieder hoch zu kommen. Auf diese Weise bauen sie Beziehungen auf. Auf diese Weise übernehmen sie Märkte und Ressourcen, und die Länder verlieren ihr technologisches und wissenschaftliches Potenzial. Das ist kein Fortschritt, sondern Versklavung und Rückführung der Volkswirtschaften auf primitive Niveaus.

Fortschritt soll Ungleichheit verringern – nicht verstärken

Die technologische Entwicklung sollte die globale Ungleichheit nicht verstärken, sondern eher verringern. Auf diese Weise hat Russland traditionell seine technologische Außenpolitik betrieben. Wenn wir zum Beispiel Kernkraftwerke in anderen Ländern bauen, schaffen wir Kompetenzzentren und bilden lokales Personal aus. Wir schaffen eine Industrie. Wir bauen nicht nur eine Anlage, sondern eine ganze Industrie. Wir geben anderen Ländern die Möglichkeit, in ihrer wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung neue Wege zu beschreiten, Ungleichheit zu verringern und ihren Energiesektor auf ein neues Niveau von Effizienz und Umweltfreundlichkeit zu bringen.

Ich möchte noch einmal betonen, daß Souveränität und ein eigener Entwicklungsweg keineswegs Isolation oder Autarkie bedeuten. Im Gegenteil, es geht um eine tatkräftige und für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit, die auf den Grundsätzen der Fairness und Gleichheit beruht.

Wenn es bei der liberalen Globalisierung darum geht, die ganze Welt zu entpersönlichen und ihr das westliche Modell aufzuzwingen, dann geht es bei der Integration im Gegensatz dazu darum, das Potenzial jeder Zivilisation zum Nutzen aller zu erschließen. Wenn Globalisierung ein Diktat ist – worauf sie letztlich hinausläuft –, dann ist Integration eine gemeinsame Anstrengung zur Entwicklung gemeinsamer Strategien, von denen alle profitieren können.

Über die großen Räume und multipolare Weltordnung

In dieser Hinsicht ist Russland der Ansicht, daß die Mechanismen zur Schaffung großer Räume, die auf der Wechselwirkung zwischen benachbarten Ländern beruhen, deren Volkswirtschaften und Sozialsysteme sowie deren Ressourcen und Infrastrukturen sich gegenseitig ergänzen, stärker genutzt werden müssen. Diese großen Räume bilden in der Tat die wirtschaftliche Grundlage einer multipolaren Weltordnung. Ihr Dialog führt zu einer echten Einheit der Menschheit, die viel komplexer, einzigartiger und mehrdimensionaler ist als die vereinfachenden Vorstellungen einiger westlicher Vordenker.

Die Einheit der Menschheit läßt sich nicht durch Befehle wie „mach es wie ich“ oder „sei wie wir“ herstellen. Sie entsteht durch die Berücksichtigung der Meinung aller und durch eine sorgfältige Auseinandersetzung mit der Identität jeder Gesellschaft und jeder Nation. Dies ist das Prinzip, das einer langfristigen Zusammenarbeit in einer multipolaren Welt zugrunde liegen kann.

Überarbeitung der Struktur der Vereinten Nationen

In dieser Hinsicht könnte es sich lohnen, die Struktur der Vereinten Nationen, einschließlich ihres Sicherheitsrates, zu überarbeiten, um die Vielfalt der Welt besser widerzuspiegeln. Schließlich wird in der Welt von morgen viel mehr von Asien, Afrika und Lateinamerika abhängen, als heute allgemein angenommen wird, und diese Zunahme ihres Einflusses ist zweifelsohne eine positive Entwicklung.

Ich möchte daran erinnern, daß die westliche Zivilisation auch in unserem gemeinsamen eurasischen Raum nicht die einzige ist. Außerdem konzentriert sich die Mehrheit der Bevölkerung im Osten Eurasiens, wo die Zentren der ältesten menschlichen Zivilisationen entstanden sind.

Der Wert und die Bedeutung Eurasiens liegen in der Tatsache, daß es einen autarken Komplex darstellt, der über enorme Ressourcen aller Art und enorme Möglichkeiten verfügt. Je mehr wir daran arbeiten, die Konnektivität Eurasiens zu erhöhen und neue Wege und Formen der Zusammenarbeit zu schaffen, desto beeindruckendere Ergebnisse werden wir erzielen.

Die erfolgreiche Arbeit der Eurasischen Wirtschaftsunion, die rasche Zunahme der Autorität und des Ansehens der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die groß angelegten „One Belt, One Road“-Initiativen, die Pläne für eine multilaterale Zusammenarbeit beim Bau des Nord-Süd-Transportkorridors und viele andere Projekte sind der Beginn einer neuen Ära, einer neuen Etappe in der Entwicklung Eurasiens. Dessen bin ich mir sicher. Die dortigen Integrationsprojekte stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich – natürlich nur, wenn sie von den Nachbarländern in ihrem eigenen Interesse durchgeführt und nicht von äußeren Kräften mit dem Ziel eingeführt werden, den eurasischen Raum zu spalten und in eine Zone der Blockkonfrontation zu verwandeln.

Viele Führer Europas haben sich zu Vasallen gemacht

Europa, das westliche Ende von Groß-Eurasien, könnte auch zu seinem natürlichen Teil werden. Doch viele seiner Führer sind von der Überzeugung beseelt, daß die Europäer den anderen überlegen sind und daß es ihnen nicht zusteht, sich als Gleichberechtigte an Unternehmungen mit anderen zu beteiligen. Diese Arroganz hindert sie daran zu erkennen, daß sie selbst zu einer fremden Peripherie geworden sind und sich faktisch in Vasallen verwandelt haben, ohne ihr Recht zu bestimmen.

Kollegen, der Zusammenbruch der Sowjetunion hat das Gleichgewicht der geopolitischen Kräfte gestört. Der Westen fühlte sich als Sieger und rief eine unipolare Weltordnung aus, in der nur sein Wille, seine Kultur und seine Interessen die Existenzberechtigung fanden.

Die Menschheit steht vor einer Wende des Weltgeschehens

Nun geht diese historische Periode der grenzenlosen Vorherrschaft des Westens im Weltgeschehen zu Ende. Die unipolare Welt ist dabei, der Vergangenheit anzugehören. Wir befinden uns an einem historischen Scheideweg. Wir stehen vor dem wahrscheinlich gefährlichsten, unvorhersehbarsten und gleichzeitig wichtigsten Jahrzehnt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Westen ist nicht in der Lage, die Menschheit im Alleingang zu regieren, und die Mehrheit der Nationen will sich das nicht länger gefallen lassen. Dies ist der Hauptwiderspruch der neuen Ära. Um einen Klassiker zu zitieren, handelt es sich zu gewissen Maß um eine revolutionäre Situation – die Eliten können und die Bevölkerung will so nicht länger leben.

Dieser Zustand ist mit globalen Konflikten oder einer ganzen Kette davon verbunden, die eine Bedrohung für die Menschheit darstellen, auch für den Westen selbst. Die Hauptaufgabe der Geschichte besteht heute darin, diesen Widerspruch konstruktiv und positiv aufzulösen.

Es gilt die Symphonie menschlicher Zivilisation zu schaffen

Der Wechsel der Epochen ist ein schmerzhafter, wenn auch natürlicher und unvermeidlicher Prozeß. Eine zukünftige Weltordnung nimmt vor unseren Augen Gestalt an. In dieser Weltordnung müssen wir jedem zuhören, jede Meinung, jede Nation, Gesellschaft, Kultur und jedes System von Weltanschauungen, Ideen und religiösen Konzepten berücksichtigen, ohne jemandem eine einzige Wahrheit aufzuzwingen. Nur auf dieser Grundlage und im Bewußtsein unserer Verantwortung für die Geschicke der Nationen und unseres Planeten werden wir eine Symphonie der menschlichen Zivilisation schaffen.

An dieser Stelle möchte ich meine Ausführungen mit einem Dank für Ihre Geduld, die Sie beim Zuhören aufgebracht haben, schließen. Ich danke Ihnen vielmals!“

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