Benedikt XVI. – Europas geistige Grundlagen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Herwig Schafberg* / Joseph Kardinal Ratzinger**

Im vergangenen Jahr sind Manche gestorben, die nicht nur mir viel bedeuteten: Ich denke dabei an Mihail Gorbatschow, der zwar letzten Endes als Reformer in der Sowjetunion scheiterte, jedoch mitentscheidend zur Beendigung des Kalten Krieges beitrug und uns Deutschen die Einheit ermöglichte. Ich denke ferner an Königin Elisabeth, die wie keine andere Persönlichkeit im Vereinigten Königreich für Kontinuität sowie Verläßlichkeit stand, stets Contenance zu wahren wußte und sich von Trump, Erdogan, Putin sowie anderen Alphamännchen, denen es an guten Manieren mangelt, so würdevoll abhob.

Ich denke last not least an Joseph Ratzinger, der mich weniger als Kleriker denn als Gelehrter interessierte – als einer, der sich im Unterschied zu anderen Geistlichen gleich welcher Konfession nicht damit begnügte, mit dem Finger die Zeilen in “heiligen Schriften” entlang zu fahren und aus ihnen irgendetwas herauszulesen, sondern darüber hinaus forschte und sich in mancherlei Hinsicht als Universalgelehrter versuchte.

Viele reduzieren den Emeritus auf das Thema sexueller Mißbrauch

In Shakespeares “Julius Caesar” heißt es an einer Stelle der berühmten Antony-Speech, die ich in der Schule auswendig lernen musste und heute noch aufsagen kann: “The evil that men do lives after them; the good is oft interred with their bones!” Und wenn ich mich in den Kommentarspalten mancher Online-Zeitungen umschaue, drängt sich mir der Eindruck auf, dass viele Kommentatoren am verstorbenen Papst nichts Gutes lassen und im Gedenken des Verstorbenen nichts anderes als dessen vermeintliche Mitschuld an sexuellen Übergriffen manch eines kirchlichen Würdenträgers übriglassen wollen.

Ich habe schon lange den Eindruck und schon manches darüber geschrieben, dass es – vermutlich nicht zuletzt zur Vergewisserung des eigenen “Gutseins” – sehr beliebt ist, anderen wortgewaltig die Schuld für irgendetwas zu geben, und dass Vertreter christlicher Kirchen, aber auch muslimischer Religionsgemeinschaften daran seit Jahrhunderten mitwirken; denn Schuldzuweisungen sowie Schamauslösungen gehören ja gewissermaßen zum Geschäftsmodell der Religionen und machen sich insbesondere dort bemerkbar, wo man die Gläubigen am empfindlichsten trifft – nämlich im “Schambereich”.

Umso peinlicher ist es, wenn Hüter religiöser Moralvorstellungen ihren Auftrag als Hosenstallschnüffler zu sexuellen Übergriffen mißbrauchen statt dafür zu sorgen, dass ihnen anvertraute Knaben unberührt bleiben. Ob bzw. inwieweit Joseph Ratzinger seinerzeit als Erzbischof von München an der Vertuschung solcher Übergriffe beteiligt war, vermag ich nicht zu beurteilen. Man wird ihm zumindest eine Mitverantwortung an Vertuschungsaktionen in seiner Erzdiözese kaum absprechen können. 

Benedikt XVI., Mohammed und die Entschuldigungsorgien der Kirche

Wie oben gesagt, interessiert mich hauptsächlich sein Wirken als Gelehrter, das man allerdings nicht von seiner Amtsführung als oberster Repräsentant der Römischen Kirche trennen kann. Ich habe manche Texte von ihm mit Interesse gelesen – u.a. den Text seiner Regensburger Vorlesung, in der er islamkritische Bemerkungen eines byzantinischen Kaisers zitierte und damit Empörung im islamischen Kulturkreis auslöste.

Dass er wegen der Zitate (!) um Entschuldigung bat, fand ich ebenso wenig angemessen wie die Bitte von Kirchenvertretern um Entschuldigung für die Kreuzzüge. Islamische Würdenträger nahmen diese Bitte huldvoll zur Kenntniss, baten jedoch mit keinem Wort um Entschuldigung für die Expansion des arabo- sowie turkoislamischen Imperialismus, der die Zerstörung der mediterranen Einheit und arabischen sowie türkischen Kolonialismus (einschließlich Massensklaverei) in Afrika, Vorderasien und Südeuropa zur Folge hatte. 

Das geschah lange, bevor europäische Christen sich als Kolonialherren auf den Weg machten: Während die Russen sich nicht nur diesseits, sondern auch jenseits des Urals ein riesiges Kolonialreich schufen, das sie bis heute nicht aufgeben wollen, wie beispielsweise der Krieg in der Ukraine zeigt, dehnten andere Europa über seine ozeanischen Grenzen aus und kolonisierten insbesondere Amerika. Dass aus den dortigen Kolonien inzwischen längst unabhängige Staaten geworden sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Staaten nicht von Ureinwohnern gegründet und beherrscht wurden, sondern von Nachkommen europäischer Kolonisten, die sich nicht mehr von den Regierungen in London, Lissabon und Madrid bevormunden lassen wollten.

Ob das all denen in der sogenannten Dritten Welt klar war, die den Sieg der Argentinier über die Franzosen bei der jüngsten Fußball-WM als Triumph über die ehemalige Kolonialmacht Frankreich feierten? Es gab in Katar wohl kaum eine Mannschaft, die so weiß war wie die argentinische. Ein Blick in die Gesichter (fast) aller Spieler ließ unschwer erkennen, dass es sich bei ihnen so gut wie gar nicht um Nachkommen von ´Indios`, sondern eher von europäischen Kolonisten handelte.

Doch statt weiter zu erzählen, was mir einfällt, will ich nun endlich das tun, was mich zu diesem Schreiben bewogen hat und den gelehrten Herrn Ratzinger mit seinen tiefgründigen Gedanken über die geistigen Grundlagen Europas zu Worte kommen lassen. Wer seine Gedanken zu dem Thema vollumfänglich zur Kenntnis nehmen möchte, findet den folgenden Vortrag, von dem ich hier nur in den ersten drei Kapitel zur Darstellung bringe, im Internet:

Joseph Kardinal Ratzinger

Europa. Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen

Europa – was ist das eigentlich? Diese Frage wurde in einem der Sprachzirkel der römischen Bischofssynode über Europa von Kardinal Glemp immer wieder nachdrücklich gestellt: Wo beginnt, wo endet Europa? Warum gehört zum Beispiel Sibirien nicht zu Europa, obwohl es doch weitgehend von Europäern bewohnt wird, die auch auf durchaus europäische Weise denken und leben? Und wo verliert sich Europa im Süden der russischen Staatengemeinschaft? Wo läuft im Atlantik seine Grenze? Welche Inseln sind Europa, welche nicht und warum nicht? In diesen Gesprächen wurde völlig klar, daß “Europa” nur ganz sekundär ein geographischer Begriff ist: Europa ist kein geographisch deutlich faßbarer Kontinent, sondern ein kultureller und historischer Begriff.

1. Die Entstehung Europas

Das zeigt sich ganz evident, wenn wir auf die Ursprünge Europas zurückzugehen versuchen. Wer vom Ursprung Europas redet, verweist gewöhnlich auf Herodot (ca. 484-425 vor Christus), der wohl als erster Europa als geographischen Begriff kennt und es so definiert: “Die Perser sehen Asien mit seinen Völkern als ihr Land an. Europa und das Land der Griechen, meinen sie, liegt vollkommen außerhalb ihrer Grenzen.” Die Grenzen Europas selbst werden nicht angegeben, aber es ist klar, daß Kernlande des heutigen Europa völlig außerhalb des Blickfelds des antiken Historikers lagen. In der Tat hatte sich mit der Ausbildung der hellenistischen Staaten und des Römischen Reiches ein “Kontinent” gebildet, der zur Grundlage des späteren Europa wurde, aber ganz andere Grenzen aufwies: Es waren die Länder rund um das Mittelmeer, die durch ihre kulturelle Verbundenheit, durch Verkehr und Handel, durch ein gemeinsames politisches System miteinander einen wirklichen “Kontinent” bildeten.

Erst der Siegeszug des Islam hat im 7. und im beginnenden 8. Jahrhundert eine Grenze durch das Mittelmeer gezogen, es sozusagen in der Mitte durchgeschnitten, so daß, was bisher ein Kontinent gewesen war, sich nunmehr in drei Kontinente teilte: Asien,Afrika, Europa. Im Osten vollzog sich die Umbildung der alten Welt langsamer als im Westen: Das Römische Reich mit Konstantinopel als Mittelpunkt hielt dort – wenn auch immer weiter zurückgedrängt – bis ins 15. Jahrhundert hinein stand. Während die Südseite des Mittelmeers um das Jahr 700 endgültig aus dem bisherigen Kulturkontinent herausgefallen ist, vollzieht sich zur selben Zeit eine immer stärkere Ausdehnung nach Norden. Der Limes, der bisher eine kontinentale Grenze gewesen war, verschwindet und öffnet sich in einen neuen Geschichtsraum hinein, der nun Gallien, Germanien, Britannien als eigentliche Kernlande umgreift und sich zusehends nach Skandinavien ausstreckt.

In diesem Prozeß der Verschiebung der Grenzen wurde die ideelle Kontinuität mit dem vorangehenden, geographisch anders bemessenen mittelmeerischen Kontinent durch eine geschichtstheologische Konstruktion gewahrt: Im Anschluß an das Buch Daniel sah man das durch den christlichen Glauben erneuerte und verwandelte Römische Reich als das letzte und bleibende Reich der Weltgeschichte überhaupt an und definierte daher das sich konstituierende Völker- und Staatengebilde als das bleibende Sacrum Imperium Romanum.

Dieser Prozeß einer neuen geschichtlichen und kulturellen Identifizierung ist unter Karl dem Großen ganz bewußt vollzogen worden, und hier taucht nun auch wieder das alte Wort Europa in verwandelter Bedeutung auf: Diese Vokabel wurde nun geradezu als Bezeichnung für das Reich Karl’s des Großen gebraucht und drückte zugleich das Bewußtsein der Kontinuität und der Neuheit aus, mit dem sich das neue Staatengefüge als die eigentlich zukunftstragende Kraft auswies – zukunftstragend, gerade weil es sich in der Kontinuität der bisherigen Geschichte und letztlich im Immerwährenden verankert begriff. In dem so sich bildenden Selbstverständnis ist ebenso das Bewußtsein der Endgültigkeit wie das Bewußtsein einer Sendung ausgedrückt.

Der Begriff Europa ist zwar nach dem Ende des Karolingischen Reiches wieder weitgehend verschwunden und nur in der Gelehrtensprache erhalten geblieben; in die Populärsprache geht er erst zu Beginn der Neuzeit – wohl im Zusammenhang mit der Türkengefahr als Weise der Selbstidentifizierung – über, um sich allgemein im 18. Jahrhundert durchzusetzen. Unabhängig von dieser Wortgeschichte bedeutet die Konstituierung des Frankenreiches als des nie untergegangenen und nun neu geborenen Römischen Reiches in der Tat den entscheidenden Schritt auf das zu, was wir heute meinen, wenn wir von Europa sprechen. 

Freilich dürfen wir nicht vergessen, daß es auch noch eine zweite Wurzel Europas, eines nicht westlichen, nicht abendländischen Europa gibt: Das Römische Reich hatte ja, wie schon gesagt, in Byzanz über die Stürme der Völkerwanderung und der Islamischen Invasion hin standgehalten. Byzanz verstand sich als das wirkliche Rom; hier war das Reich in der Tat nicht untergegangen, weshalb man auch weiterhin Anspruch auf die westliche Reichshälfte erhob. Auch dieses östliche Römische Reich hat sich weit nach Norden, in die slawische Welt hinein ausgedehnt und eine eigene, griechisch-römische Welt geschaffen, die sich von dem lateinischen Europa des Westens durch die andere Liturgie, die andere Kirchenverfassung, durch die andere Schrift und durch den Verzicht auf das Latein als gemeinsame Bildungssprache unterscheidet.

Freilich gibt es auch genug verbindende Elemente, die die zwei Welten doch zu einem gemeinsamen Kontinent machen können: An erster Stelle das gemeinsame Erbe der Bibel und der alten Kirche, das übrigens in beiden Welten über sich hinausweist auf einen Ursprung, der nun außerhalb Europas, in Palästina liegt; dazu die gemeinsame Reichsidee, das gemeinsame Grundverständnis der Kirche und damit auch die Gemeinsamkeit grundlegender Rechtsvorstellungen und rechtlicher Instrumente; schließlich würde ich auch das Mönchtum erwähnen, das in den großen Erschütterungen der Geschichte der wesentliche Träger nicht nur der kulturellen Kontinuität, sondern vor allem der grundlegenden religiösen und sittlichen Werte, der letzten Orientierungen des Menschen geblieben ist und als vorpolitische und überpolitische Kraft zum Träger der immer wieder nötigen Wiedergeburten wurde. 

Zwischen den beiden Europen gibt es mitten in der Gemeinsamkeit des wesentlichen kirchlichen Erbes allerdings doch noch einen tiefreichenden Unterschied, auf dessen Bedeutung besonders Endre von Ivanka hingewiesen hat: In Byzanz erscheinen Reich und Kirche nahezu miteinander identifiziert; der Kaiser ist das Haupt auch der Kirche. Er versteht sich als Stellvertreter Christi, und im Anschluß an die Gestalt des Melchisedek, der König und Priester zugleich war (Gen 14,18), führt er seit dem 6. Jahrhundert den offiziellen Titel “König und Priester”. Dadurch daß das Kaisertum seit Konstantin aus Rom abgewandert war, konnte sich in der alten Reichshauptstadt die selbständige Stellung des römischen Bischofs als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entwickeln; hier wird schon seit Beginn der konstantinischen Ära eine Dualität der Gewalten gelehrt: Kaiser und Papst haben je getrennte Vollmachten, keiner verfügt über das Ganze.

Papst Gelasius I. (492-496) hat die Sicht des Westens in seinem berühmten Brief an Kaiser Anastasius und noch deutlicher in seinem vierten Traktat formuliert, wo er der byzantinischen Melchisedek-Typologie gegenüber betont, daß die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. “Dieser selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten die beiden Ämter getrennt, damit sich niemand überhebe (c. 11).” Für die Dinge des ewigen Lebens bedürfen die christlichen Kaiser der Priester (pontifices), und diese wiederum halten sich für den zeitlichen Lauf der Dinge an die kaiserlichen Verfügungen.

Die Priester müssen in weltlichen Dingen den Gesetzen des durch göttliche Ordnung eingesetzten Kaisers folgen, während dieser sich in göttlichen Dingendem Priester zu unterwerfen habe. Damit ist eine Gewaltentrennung und -unterscheidung eingeführt, die für die folgende Entwicklung Europas von höchster Bedeutung wurde und sozusagen das eigentlich Abendländische grundgelegt hat. Weil auf beiden Seiten entgegen solchen Abgrenzungen immer der Totalitätsdrang, das Verlangen nach der Überordnung der eigenen Macht über die andere lebendig blieb, ist dieses Trennungsprinzip auch zum Quell unendlicher Leiden geworden. Wie es recht zu leben und politisch wie religiös zu gestalten ist, bleibt ein grundlegendes Problem auch für das Europa von heute und von morgen.

2. Der Umbruch in die Neuzeit hinein

Wenn wir nach dem bisher Gesagten die Entstehung des Karolingischen Reiches einerseits, das Fortbestehen des Römischen Reiches in Byzanz und seine Slawenmission andererseits als die eigentliche Geburt des “Kontinents” Europa ansehen dürfen, so bedeutet für die beiden Europen der Beginn der Neuzeit einen Umbruch, der sowohl das Wesen dieses Kontinents wie seine geographischen Umrisse betrifft.

1453 wurde Konstantinopel von den Türken erobert. O. Hiltbrunner kommentiert dazu lakonisch: “Die letzten… Gelehrten wanderten… nach Italien aus und vermittelten den Humanisten der Renaissance die Kenntnis der griechischen Originale; der Osten aber versank in Kulturlosigkeit.” Das mag etwas schroff formuliert sein, weil ja auch das Osmanische Reich seine Kultur hatte; richtig ist, daß die christlich-griechische, “europäische” Kultur von Byzanz damit ein Ende fand.

So drohte damit der eine Flügel Europas zu verschwinden, aber das byzantinische Erbe war nicht tot: Moskau erklärt sich zum dritten Rom, bildet nun selbst ein eigenes Patriarchat auf der Basis der Idee einer zweiten translatio imperii und stellt sich damit als eine neue Metamorphose des Sacrum Imperium dar – als eine eigene Form von Europa, das doch dem Westen verbunden blieb und sich immer mehr an ihm orientierte, bis schließlich Peter der Große es zu einem westlichen Land zu machen versuchte.

Diese Nordverschiebung des byzantinischen Europa brachte es mit sich, daß nun auch die Grenzen des Kontinents weit nach Osten in Bewegung kamen. Die Festlegung des Ural als Grenze ist durchaus willkürlich, jedenfalls wurde die Welt östlich davon immer mehr zu einer Art Hinterhaus Europas, weder Asien noch Europa, vom Subjekt Europa wesentlich geformt, ohne selbst an seinem Subjektcharakter teilzunehmen: Objekt und nicht selber Träger seiner Geschichte. Vielleicht ist damit überhaupt das Wesen eines Kolonialstatus definiert.

Wir können also bezüglich des byzantinischen, nicht abendländischen Europa zu Beginn der Neuzeit von einem doppelten Vorgang sprechen: Auf der einen Seite steht das Erlöschen des alten Byzanz mit seiner historischen Kontinuität zum Römischen Reich; auf der anderen Seite erhält dieses zweite Europa mit Moskau eine neue Mitte und weitet seine Grenze nach Osten hin aus, um schließlich in Sibirien eine Art kolonialen Vorbau einzurichten.

Gleichzeitig können wir im Westen ebenfalls einen doppelten Vorgang mit weitreichender historischer Bedeutung konstatieren. Ein großer Teil der germanischen Welt reißt sich los von Rom; eine neue, aufgeklärte Art des Christentums entsteht, so daß durch das “Abendland” von nun an eine Trennlinie verläuft, die deutlich auch einen kulturellen Limes, eine Grenze zweier unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen bildet.

Freilich gibt es auch innerhalb der protestantischen Welt Risse, zum einen zwischen Lutheranern und Reformierten, denen sich Methodisten und Presbyterianer zugesellen, während die Anglikanische Kirche einen Mittelweg zwischen katholisch und evangelisch auszubilden versucht; dazu kommt dann auch die Differenz zwischen staatskirchlich geformtem Christentum, das für Europa kennzeichnend wird und Freikirchen, die ihren Zufluchtsraum in Nordamerika finden, worüber noch zu sprechen sein wird.

Achten wir zunächst noch auf den zweiten Vorgang, der die neuzeitliche Situation des ehemals lateinischen Europa wesentlich umprägt: die Entdeckung Amerikas. Der Osterweiterung Europas durch die fortschreitende Ausdehnung von Rußland nach Asien entspricht der radikale Ausbruch Europas aus seinen geographischen Grenzen in die Welt jenseits des Ozean, die nun den Namen Amerika empfängt; die Teilung Europas in eine lateinisch-katholische und eine germanisch-protestantische Hälfte überträgt sich auf diesen von Europa mit Beschlag belegten Erdteil.

Auch Amerika wird zunächst zu einem erweiterten Europa, zur “Kolonie”, schafft sich aber gleichzeitig mit der Erschütterung Europas durch die Französische Revolution seinen eigenen Subjektcharakter: Vom 19. Jahrhundert an steht es, wenngleich tief von seiner europäischen Geburt geprägt, Europa doch als eigenes Subjekt gegenüber.

Bei dem Versuch, durch den Blick auf die Geschichte die innere Identität Europas zu erkennen, haben wir jetzt zwei grundlegende geschichtliche Umbrüche anvisiert: als erstes die Ablösung des alten mediteranen Kontinents durch den weiter nördlich angesetzten Kontinent des Sacrum Imperium, in dem sich seit der Karolingischen Epoche “Europa” als westlich-lateinische Welt bildet; daneben das Fortbestehen des alten Rom in Byzanz mit seinem Ausgriff in die slawische Welt.

Wir hatten als zweiten Schritt den Fall von Byzanz und die damit erfolgende Nord- und Ost-Verschiebung des christlichen Reichsgedankens auf der einen Seite Europas beobachtet, auf der anderen Seite die innere Teilung Europas in germanisch-protestantische und lateinisch-katholische Welt, dazu den Ausgriff nach Amerika, auf das sich diese Teilung überträgt und das sich schließlich als eigenes, Europa gegenüberstehendes geschichtliches Subjekt konstituiert.

Nun müssen wir einen dritten Umbruch ins Auge fassen, dessen weithin sichtbares Fanal die Französische Revolution bildete. Zwar war das Sacrum Imperium schon seit dem späten Mittelalter als politische Realität in Auflösung begriffen und auch als tragende Geschichtsdeutung immer brüchiger geworden, aber jetzt erst zerbricht auch formell dieser geistige Rahmen, ohne den sich Europa nicht hätte bilden können. Dies ist sowohl in realpolitischer wie in ideeller Hinsicht ein Vorgang von erheblicher Tragweite.

In ideeller Hinsicht bedeutet dies, daß die sakrale Fundierung der Geschichte und der staatlichen Existenz abgeworfen wird: Die Geschichte mißt sich nicht mehr an einer ihr vorausliegenden und sie formenden Idee Gottes; der Staat wird nunmehr rein säkular betrachtet, auf Rationalität und Bürgerwillen gegründet. Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und Normierung des Politischen als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache erklärt, die nicht ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört. Die wird nun allein als Sache der Vernunft angesehen, für die Gott nicht eindeutig erkennbar erscheint: Religion und Glaube an Gott gehören dem Bereich des Fühlens, nicht der Vernunft zu. Gott und sein Wille hören auf, öffentlich relevant zu sein.

Auf diese Weise entsteht mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung, deren Ernst wir zusehends zu fühlen bekommen. Sie hat im Deutschen keinen Namen, weil sie hier sich langsamer ausgewirkt hat. In den lateinischen Sprachen wird sie als Spaltung zwischen “Christen” und “Laien” bezeichnet. Diese Spannung ist in den letzten zwei Jahrhunderten als ein tiefer Riß durch die lateinischen Nationen gegangen, während das protestantische Christentum es zunächst leichter hatte, liberalen und aufgeklärten Ideen in seinem Inneren Raum zu geben, ohne daß der Rahmen eines weitläufigen christlichen Grundkonsenses dabei hätte gesprengt werden müssen.

Die realpolitische Seite der Ablösung der alten Reichsidee besteht darin, daß nun definitiv die Nationen, die durch die Ausbildung einheitlicher Sprachräume als solche identifizierbar geworden waren, als die eigentlichen und einzigen Träger der Geschichte erscheinen, also einen Rang erhalten, der ihnen vorher so nicht zugekommen war. Die explosive Dramatik dieses nun pluralen Geschichtssubjekts zeigt sich darin, daß sich doch die großen europäischen Nationen mit einer universalen Sendung betraut wußten, die notwendig zum Konflikt zwischen ihnen führen mußte, dessen tödliche Wucht wir in dem nun verflossenen Jahrhundert leidvoll erfahren haben.

3. Die Universalisierung der europäischen Kultur und ihre Krise

Schließlich ist da aber noch ein weiterer Vorgang zu bemerken, mit dem sich die Geschichte der letzten Jahrhunderte deutlich in ein neues hinein überschreitet. Hatte das alte vorneuzeitliche Europa in seinen beiden Hälften wesentlich nur ein Gegenüber gekannt, mit dem es sich auf Leben und Tod auseinanderzusetzen hatte, nämlich die islamische Welt; hatte die neuzeitliche Wende die Ausweitung nach Amerika und in Teile Asiens ohne eigene große Kultursubjekte gebracht, so erfolgt nun der Ausgriff auf die beiden bisher nur marginal berührten Kontinente: Afrika und Asien, die man jetzt ebenfalls zu Ablegern Europas, zu “Kolonien” umzugestalten versuchte. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch gelungen, insofern jetzt auch Asien und Afrika dem Ideal der technisch geprägten Welt und ihres Wohlstands nacheifern, so daß auch dort die alten religiösen Überlieferungen in eine Situation der Krise eintreten und rein säkular denkende Schichten immer mehr das öffentliche Leben beherrschen.

Aber es gibt auch eine Gegenwirkung: Die Renaissance des Islam ist nicht nur mit dem neuen materiellen Reichtum islamischer Länder verbunden, sondern auch von dem Bewußtsein gespeist, daß der Islam eine tragfähige geistige Grundlage für das Leben der Völker zu bieten vermöge, die dem alten Europa abhanden gekommen zu sein scheint, das so trotz seiner noch währenden politischen und wirtschaftlichen Macht immer mehr zum Abstieg und zum Untergang verurteilt angesehen wird.

Auch die großen religiösen Traditionen Asiens, vor allem seine im Buddhismus ausgedrückte mystische Komponente erheben sich als geistige Kräfte gegen ein Europa, das seine religiösen und sittlichen Grundlagen verneint. Der Optimismus über den Sieg des Europäischen, den Arnold Toynbee noch zu Beginn der sechziger Jahre vertreten konnte, erscheint heute seltsam überholt: “Von 28 Kulturen, die wir identifiziert haben… sind 18 tot und neun von den verbliebenen zehn – alle in der Tat außer unserer – zeigen, daß sie bereits niedergebrochen sind.”

Wer würde das heute so noch sagen mögen? Und überhaupt – was ist das, “unsere” Kultur, die noch geblieben ist? Ist die siegreich über die Welt ausgebreitete Zivilisation der Technik und des Kommerzes die europäische Kultur? Oder ist sie nicht eher posteuropäisch aus dem Ende der alten europäischen Kulturen geboren? Ich sehe da eine paradoxe Synchronie: Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders aber in den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, daß die Wertewelt Europas, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhten, am Ende und eigentlich schon abgetreten sei; daß nun die Stunde der Wertesysteme anderer Welten, des präkolumbianischen Amerika, des Islam, der asiatischen Mystik gekommen sei.

Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte entspricht es, daß auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen erscheint.

Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft. Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart angesehen; sie nehmen uns etwas von unserem Leben weg, so meint man. Sie werden weithin nicht als Hoffnung, sondern als Grenze der Gegenwart empfunden. Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch schon von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskraft mehr hatte.

Damit sind wir bei den Problemen der Gegenwart angelangt. Über die mögliche Zukunft Europas gibt es zwei gegensätzliche Diagnosen. Da ist auf der einen Seite die These von Oswald Spengler, der für die großen Kulturgestalten eine Art von naturgesetzlichem Verlauf glaubte feststellen zu können: Es gibt den Augenblick der Geburt, den allmählichen Aufstieg, die Blütezeit einer Kultur, ihr langsames Ermüden, Altern und Tod. Spengler belegt seine These eindrucksvoll aus der Geschichte der Kulturen, in der man dieses Verlaufsgesetz nachzeichnen kann. Seine These war, daß das Abendland in seiner Spätphase angelangt sei, die allen Beschwörungen zum Trotz unausweichlich auf den Tod dieses kulturellen Kontinents hinausläuft. Natürlich kann er seine Gaben an eine neu aufsteigende Kultur weiterreichen, wie es in früheren Untergängen geschehen ist, aber als dieses Subjekt habe er seine Lebenszeit hinter sich.

Diese als biologistisch gebrandmarkte These hat zwischen den beiden Weltkriegen besonders im katholischen Raum leidenschaftliche Bestreiter gefunden; eindrucksvoll ist ihr auch Arnold Toynbee entgegengetreten, freilich mit Postulaten, die heute wenig Gehör finden. Toynbee stellt die Differenz zwischen materiellem-technischem Fortschritt einerseits, wirklichem Fortschritt andererseits heraus, den er als Vergeistigung definiert. Er räumt ein, daß sich das Abendland – die “westliche Welt” – in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht.

Die Krise heißt für ihn letztlich: Säkularismus. Wenn man die Ursache der Krise kennt, kann man auch den Weg der Heilung angeben: Das religiöse Moment muß neu eingeführt werden, wozu für ihn das religiöse Erbe aller Kulturen gehört, besonders aber das, “was vom abendländischen Christentum übriggeblieben ist.” Der biologistischen tritt hier eine voluntaristische Sicht entgegen, die auf die Kraft schöpferischer Minderheiten und herausragender Einzelpersönlichkeiten setzt.

Es stellt sich die Frage: Ist die Diagnose richtig? Und wenn – liegt es in unserer Macht, das religiöse Moment neu einzuführen, in einer Synthese aus Restchristentum und religiösem Menschheitserbe? Letztlich bleibt die Frage zwischen Spengler und Toynbee offen, weil wir nicht in die Zukunft schauen können. Aber unabhängig davon stellt sich die Aufgabe, nach dem zu fragen, was Zukunft gewähren kann und was die innere Identität Europas in allen geschichtlichen Metamorphosen weiterzuführen vermag. Oder noch einfacher: was auch heute und morgen die Menschenwürde und ein ihr gemäßes Dasein zu schenken verspricht.

Um darauf Antwort zu finden, müssen wir noch einmal in unsere Gegenwart hineinblicken und zugleich ihre geschichtlichen Wurzeln gegenwärtig halten. Wir waren vorhin ja bei der Französischen Revolution und dem 19. Jahrhundert stehen geblieben. In dieser Zeit haben sich vor allem zwei neue “europäische” Modelle entwickelt. Da steht bei den lateinischen Nationen das laizistische Modell: Der Staat ist streng geschieden von den religiösen Körperschaften, die in den privaten Bereich verwiesen sind. Er selber lehnt ein religiöses Fundament ab und weiß sich allein auf die Vernunft und ihre Einsichten gegründet. Angesichts der Fragilität der Vernunft haben sich diese Systeme als brüchig und diktaturanfällig erwiesen; sie überleben eigentlich nur, weil Teile des alten moralischen Bewußtseins auch ohne die vorigen Grundlagen weiterbestehen und einen moralischen Basiskonsens ermöglichen.

Auf der anderen Seite stehen im germanischen Raum in unterschiedlicher Weise die staatskirchlichen Modelle des liberalen Protestantismus, in denen eine aufgeklärte, wesentlich als Moral gefaßte christliche Religion – auch mit staatlich verbürgten Kultformen – den moralischen Konsens und eine weit gespannte religiöse Grundlage verbürgt, der sich die einzelnen nicht staatlichen Religionen anzupassen haben. Dieses Modell hat in Groß-Britannien, in den skandinavischen Staaten und zunächst auch im preußisch dominierten Deutschland staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt über lange Zeit hin verbürgt.

In Deutschland allerdings hat der Zusammenbruch des preußischen Staatskirchentums ein Vakuum geschaffen, das sich dann ebenfalls als Leerraum für eine Diktatur anbot. Heute sind die Staatskirchen überall von der Auszehrung befallen: Von religiösen Körpern, die Derivate des Staates sind, geht keine moralische Kraft aus, und der Staat selbst kann moralische Kraft nicht schaffen, sondern muß sie voraussetzen und auf ihr aufbauen.

Zwischen den beiden Modellen stehen die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die einerseits – auf freikirchlicher Grundlage geformt – von einem strikten Trennungsdogma ausgehen, andererseits über die einzelnen Denominationen hinweg doch tief von einem nicht konfessionell geprägten protestantisch-christlichen Grundkonsens geprägt wurden, der sich mit einem besonderen Sendungsbewußtsein religiöser Art der übrigen Welt gegenüber verband und so dem religiösen Moment ein bedeutendes öffentliches Gewicht gab, das als vorpolitische und überpolitische Kraft für das politische Leben bestimmend sein konnte. Freilich darf man sich nicht verbergen, daß auch in den Vereinigten Staaten die Auflösung des christlichen Erbes unablässig voranschreitet, während gleichzeitig die schnelle Zunahme des spanischen Elements und die Anwesenheit religiöser Traditionen aus aller Welt das Bild verändert.

Vielleicht muß man hier doch auch anmerken, daß die Vereinigten Staaten die Protestantisierung Lateinamerikas, also die Ablösung der katholischen Kirche durch freikirchliche Formen unübersehbar fördern, aus der Überzeugung heraus, daß die katholische Kirche keine stabilen Wirtschafts- und politischen Systeme gewährleisten könne, insofern also als Erzieherin der Nationen versage, während man erwartet, daß das freikirchliche Modell einen ähnlichen moralischen Konsens und demokratische Willensbildung ermöglichen werde, wie sie für die Vereinigten Staaten charakteristisch sind.

Um das Bild weiter zu komplizieren, muß man hinzunehmen, daß heute die katholische Kirche die größte Religionsgemeinschaft in den Vereinigten Staaten bildet, daß sie in ihrem Glaubensleben ganz entschieden zur katholischen Identität steht, daß aber die Katholiken hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Politik die freikirchlichen Traditionen in dem Sinn aufgenommen haben, daß gerade eine nicht dem Staat verschmolzene Kirche die moralischen Grundlagen des Ganzen besser gewährleistet, so daß die Förderung des demokratischen Ideals als eine tief dem Glauben gemäße moralische Verpflichtung erscheint. Man kann in einer solchen Position mit gutem Recht eine zeitgemäße Fortführung des Modells von Papst Gelasius sehen, von dem ich oben gesprochen hatte.

Kehren wir nach Europa zurück. Zu den zwei Modellen, von denen wir vorher sprachen, hat sich noch im 19. Jahrhundert ein drittes gesellt, nämlich der Sozialismus, der sich alsbald in zwei unterschiedliche Wege aufteilte, den totalitären und den demokratischen. Der demokratische Sozialismus hat sich von seinem Ausgangspunkt her als ein heilsames Gegengewicht gegenüber den radikal liberalen Positionen in die beiden bestehenden Modelle einzufügen vermocht, sie bereichert und auch korrigiert.

Er erwies sich dabei auch als die Konfessionen übergreifend: In England war er die Partei der Katholiken, die sich weder im protestantisch-konservativen noch im liberalen Lager zu Hause fühlen konnten. Auch im wilhelminischen Deutschland konnte sich das katholische Zentrum weithin dem demokratischen Sozialismus näher fühlen als den streng preußisch protestantischen konservativen Kräften. In vielem stand und steht der demokratische Sozialismus der katholischen Soziallehre nahe, jedenfalls hat er zur sozialen Bewußtseinsbildung erheblich beigetragen.

Das totalitäre Modell hingegen verband sich mit einer streng materialistischen und atheistischen Geschichtsphilosophie: Die Geschichte wird deterministisch als ein Prozeß des Fortschritts über die religiöse und die liberale Phase hin zur absoluten und endgültigen Gesellschaft verstanden, in der Religion als Relikt der Vergangenheit überwunden sein und das Funktionieren der materiellen Bedingungen das Glück aller gewährleisten wird.

Die scheinbare Wissenschaftlichkeit verbirgt einen intoleranten Dogmatismus: Der Geist ist Produkt der Materie; die Moral ist Produkt der Umstände und muß je nach den Zwecken der Gesellschaft definiert und praktiziert werden; alles, was der Herbeiführung des glücklichen Endzustandes dient, ist moralisch. Hier ist die Umwertung der Werte, die Europa gebaut hatten, vollständig. Mehr, hier vollzieht sich ein Bruch mit der gesamten moralischen Tradition der Menschheit: Es gibt keine von den Zwecken des Fortschritts unabhängigen Werte mehr, alles kann im gegebenen Augenblick erlaubt oder sogar notwendig, im neuen Sinn moralisch sein. Auch der Mensch kann zum Mittel werden; nicht der einzelne zählt, sondern einzig die Zukunft wird zur grausamen Gottheit, die über alle und alles verfügt.

Die kommunistischen Systeme sind inzwischen zunächst an ihrer falschen ökonomischen Dogmatik gescheitert. Aber man übersieht allzu gern, daß sie tieferhin an ihrer Menschenverachtung, an ihrer Unterordnung der Moral unter die Bedürfnisse des Systems und seine Zukunftsverheißungen zugrunde gegangen sind. Die eigentliche Katastrophe, die sie hinterlassen haben, ist nicht wirtschaftlicher Natur; sie besteht in der Verwüstung der Seelen, in der Zerstörung des moralischen Bewußtseins. Ich sehe ein wesentliches Problem unserer Stunde für Europa und für die Welt darin, daß zwar nirgends das wirtschaftliche Scheitern bestritten wird und daher Altkommunisten ohne Zögern zu Wirtschaftsliberalen geworden sind; hingegen wird die moralische und religiöse Problematik, um die es eigentlich ging, fast völlig verdrängt.

Insofern besteht die vom Marxismus hinterlassene Problematik auch heute fort: Die Auflösung der Urgewißheiten des Menschen über Gott, über sich selbst und über das Universum – die Auflösung des Bewußtseins moralischer Werte, die nie zur Disposition stehen, ist noch immer und gerade jetzt wieder unser Problem und kann zur Selbstzerstörung des europäischen Bewußtseins führen, die wir – unabhängig von Spenglers Untergangsvision – als eine reale Gefahr ins Auge fassen müssen. 

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*Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.

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**Der Vortrag “Europa. Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgenwurde im Laufe der Jahre von Ratzinger in acht verschiedenen (allerdings nur unerheblich differierenden) Varianten gehalten. Die hier wiedergegebene Variante ist den wortgleichen Ansprachen vom 28. November 2000 in der Bayerischen Vertretung in Berlin und vom 13. Mai 2004 im italienischen Senat (Rom) entnommen.

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