Ukraine: Vor der entscheidenden Frühjahrsschlacht

Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist*)

Die interessierte Weltöffentlichkeit schaut in diesen Tagen gespannt, wann die von beiden Seiten wiederholt angekündigten Großoffensiven beginnen. Sowohl Russland als auch die Ukraine kämpfen gegen Verzögerungen auf dem Wege zur Einsatzbereitschaft. In Russland verzögert sich die Instandsetzung von Waffen und Gerät. In der Ukraine kommen die zugesagten modernen Waffen und Gerät später als angesagt. Das gilt auch für Deutschland.

Der „Abnutzungskrieg“, der seit Wochen im Donbass gekämpft wird, bringt Russland mehr Verluste an Soldaten und Material als der Ukraine. Das Verhältnis bei den Ausfällen beträgt rd. 1:6 zu Ungunsten Russlands. Schlecht ausgebildete junge Soldaten rennen täglich in ihr Verderben. Die Ausfälle an russischen Soldaten gehen bei den beinahe täglichen Angriffen konstant auf über 500 Tote und Verwundete – in Spitzenzeiten sogar auf über 800.

Mit “Kanonenfutter” kann man keinen Krieg gewinnen

Die Angreifer rennen ohne große Feuervorbereitung gegen Festungen der ukrainischen Soldaten an. In meinen Augen haben die ukrainischen Soldaten große Vorteile, die nach Wochen und Monaten in auch von oben geschützten Schützengräben und Kampfständen auf die Angreifer warten und diese bekämpfen. Und das mit großem Erfolg.

Dieses ungleiche Gefecht tötet bei den Angreifern jeden Kampfgeist und jede Moral. Die russischen Soldaten, die nach hinten ausweichen wollen, um Tod und Verwundungen zu entgehen, werden von russischen Soldaten in sog.“ Sperreinheiten“ bekämpft. Diese Soldaten gelten als „Unberührbare“ und Feiglinge. Die einfachen, schlecht ausgebildeten Soldaten werden als „Kanonenfutter“ bezeichnet.

Ab und an werden hohe Kommandeure aufgrund der hohen Ausfälle von ihrem Posten abgelöst und von weniger erfahrenen Nachfolgern ersetzt, ohne Änderungen in den Gefechtsabläufen. Mit einer solchen Einstellung der Kommandeure ist kein Krieg zu gewinnen. Den Kriegsführer Putin interessiert diese Kritik nicht, er setzt keine Menschen ein, sondern arbeitet mit Zahlen.

Sollte es in den nächsten Tagen und Wochen zu schweren Kämpfen kommen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die russischen Soldaten alles tun werden, um Tod und Verwundungen zu vermeiden.

Noch ist die Lage fast eingefroren

Das Wetter engt für Angreifer und Verteidiger noch immer die Bewegungsfreiheit schwerer Kampffahrzeuge im freien Gelände ein Wenn es zum Gefecht von westlichen modernen und russischen WK II Panzern kommt, wird sich die Überlegenheit westlicher Panzer deutlich zeigen. Die alten russischen Panzer sind in allen technischen und kampfentscheidenden Parametern unterlegen, sowohl in der Beweglichkeit in schwerem Geländ, als auch in der Reichweite der Kanonen, in der Panzerung und im beweglich geführten Gefecht mit Unterstützung der Artillerie, den Pionieren und neuerdings mit Aufklärungskräften.

Die ukrainischen Landstreitkräfte haben durch Drohnen eine Kampfwertsteigerung erfahren. Sie haben auf der taktischen Ebene Drohnengeschwader integriert – mit eigener Führung und Kommunikationsmitteln. Bei Befehlsausgaben sind deren Führer präsent. Diese theoretisch verfügbare Qualität muss sich zukünftig im Gefecht bewähren. Die gut ausgebildeten taktischen Führer werden lernen, wie die angesprochene Kampfwertsteigerung durch organisch integrierte Drohnen erfolgreich umgesetzt werden kann. Gekämpft wird zurzeit primär auf taktischer Ebene.

Die Qualität der Führung wird über den Erfolg entscheiden

Die Namen der ukrainischen „Festungen“ sind Bachmut, Donezk, Awdijiwka und Wuhledar, die zum Teil durch Einkesselung von ihrer Versorgung abgeschnitten sind. Sie haben bisher russische Ein- und Durchbrüche verhindert und in der Zwischenzeit in ihrer Tiefe neue Verteidigungsstellungen vorbereitet. So kann ein russischer Durchbruch nach Süden verhindert werden.

Dieses Bild des bisherigen Gefechtsfeldes wird sich nach Beginn von Großoffensiven deutlich verändern. Es wird mehr Bewegung und Intensität aufweisen. Es kann noch in diesem Jahr zu einem Waffenstillstand kommen, der zu ersten Verhandlungen führen könnte. Ich sehe Vorteile in den ukrainischen Einheiten und Verbänden. Sie weisen eine höhere Führungskunst und eine starke Kampfmoral ihrer Unteroffiziere und Mannschaften auf. Der tapfere Widerstand der Zivilbevölkerung verschafft den Soldaten den die Kraft, ihre Angehörigen tapfer zu verteidigen. Sie können sich auf ihre Verbündeten verlassen.

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*) Brig. General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen und anschließend Berufssoldat. Einen Höhepunkt seiner Karriere bildete die Tätigkeit im Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, wo er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig war. In den 90er Jahren fand er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte Verwendung und war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt. Schon während seiner Dienstzeit verfasste Farwick mehrere Bücher und andere Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte. Im „Ruhestand“ engagierte er sich viele Jahre als Chefredakteur eines Newsservice für sicherheitsrelevante Themen und organisiert heute noch Tagungen zu diesem Thema an renommierten Instituten.

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