DIE SEHNSUCHT NACH MONOKAUSALITÄT

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Von Dr. Wolfgang Caspart

„Unser heutiges Bildungswesen steht näher an der Apokalypse als an der Katastrophe…. Und weil das Abreißen immer leichter ist als das Aufbauen, diskutieren Politik, Journaille und ´moderne Pädagogik´ munter darauf los. Vor allem hat man es dabei gerne einfach. Man wünscht – mit Rücksicht auf das vermeintlich dumme Volk – Verringerung von Komplexität auf Monokausalität und Eindimensionalität…. Mitreden kann hier schließlich jeder, denn jeder hat einmal die Schule besucht oder kennt zumindest einen, die einen kennt, der in der Schule war. Andere aber, die in solchen Runden auf Realismus oder auch nur auf Differenzierung achten, stehen auf verlorenen Posten“ (Josef Kraus 2009, 1987 bis Juni 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes).

Ideologiebildung

Damit ist das Problem erkannt, nämlich die weit verbreitete und immer mehr zunehmende Tendenz zu simplifizierenden und reduktionistischen Ideologien (Ideenlehren). Also zu Heuristiken (Erfindungen oder Entdeckungen, griech. heuriskein = finden), Hypothesen (Unterstellungen, Annahmen), Theorien (Anschauungen) und Utopien (Idealwerte), welche jede für sich alles aus einer vorgefassten Meinung zu „erklären“ suchen. Mit den Methoden der Übereinstimmungssuche (confirmation bias, Watson 1960), illusionären Korrelation (Relativierung oder gar Negierung abweichender Standpunkte, Chapman & Chapman 1967) und Nichtrepräsentativität (Kahneman & Tversky 1972) wird die jeweils eigene fixe Idee generalisiert und absolut gesetzt. Besonders pikant wird es, wenn ursprüngliche Aussagen nach dem Bekanntwerden des Ausganges eines Ereignisses durch den „Hindsight“-Effekt umbewertet werden (Fischhoff 1977). Solcherweise „beweisen“ Ideologen die scheinbare Stimmigkeit ihrer Postulate und den vermeintlichen Irrtum ihrer Gegner.

Aufgrund ihres jeweiligen Absolutheitsanspruches schließen so entwickelte Ideologien einander wechselseitig aus, sind nicht überhöhungsfähig und untereinander friedensunfähig. Sie sind alle gleich wahr und richtig, nämlich falsch und widersinnig, da übertrieben und einseitig. Zur Selbstbehauptung und Eigenlegitimation bilden sie umfangreiche Apologien (Verteidigungen) aus, sind ungesund, verfälschen das Bild ihrer Umwelt und werden neurotisch, wenn sie nicht schon selbst Ausdruck einer Neurose oder eines individuellen Traumas sind (Caspart 2007). Als terrible simplificateur (schrecklicher Vereinfacher) entschließt sich der Ideologe für „seine“ Ideologie im Grunde aus subjektiven Motiven, die jenseits der Objektivität korrekter empirischer Wissenschaften liegen, die aber für ihre ideologische Verbindlichkeit in Anspruch genommen werden (Schlette 1968). Auch opportunistische oder sogar betrügerische Absichten können die Ausbildung von Ideologien motivieren (Kurucz 1986).

Beispiele finden sich in der Ideengeschichte genug. Unter anderem ließe sich in jüngerer Zeit die klassisch liberale Nationalökonomie erwähnen, nach der eine „unsichtbare Hand“ den Egoismus der Individuen zum Allgemeinwohl umkehrt (Smith 1774). Nicht ganz unverwandt werden im Historischen Materialismus die Ökonomie und daraus die Produktionsverhältnisse zum Motor der Geschichte (Marx 1867). Sozialdarwinismus (Haeckel 1899) und Rassentheorien (Gobineau 1853-1855, Grant 1916, Günther 1935) wurden im Nationalsozialismus zum alles bestimmenden Faktor. In der Psychologie erklärt Freud (1930) das menschliche Verhalten aus seiner Triebstruktur, Adler (1912) aus dem organischen oder sozialen Status oder Jung (1942) aus den Archetypen (Urbildern oder Grundmustern).

WISSENSCHAFTSTHEORIE

Indem sich Ideologien auf erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse berufen, die sie dann generalisieren, verstoßen sie gegen die grundlegende Einsicht des Kritischen Rationalismus´, wonach empirische Feststellungen grundsätzlich nur vorläufig gültig sind, nämlich bis zu ihrer jederzeit möglichen Falsifizierung (Popper 1935). Sosehr sich Ideologien auch auf empirische Theorien berufen mögen, werden sie aufgrund ihrer inkorrekt Generalisierungen und Reduktionismen stets unwissenschaftlich. Überhaupt wäre es angebracht, sich zum Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant 1784) mit einigen wissenschaftstheoretischen Grundlagen zu befassen.

Jede Wissenschaft baut auf einem ihr vorangehenden Vorverständnis auf, auch die Naturwissenschaft (Gadamer 1960). Ihre Axiome oder Grundsätze (neben der Logik noch Beobachtbarkeit, Wiederholbarkeit, Messbarkeit und Experimentierbarkeit der Objekte) kommen nämlich nicht unmittelbar in der Natur oder der Materie selber vor, sondern werden durch die hermeneutische (sinnverstehende) Beschäftigung mit den Erkenntnismöglichkeiten des Beobachtbaren heuristisch gefunden. Erst wenn den Gegenständen in einer Haltung liebender und einfühlender Zuwendung ein Sinngehalt verliehen wird, ist Verstehen möglich,. Es geht in der Hermeneutik (nach Hermes, dem griechischen Götterboten) darum, etwas in seinem Sinngehalt und Wesen zu erkennen und psychologisch zu erklären (Diltey 1907). Jede Erkenntnis, auch die naturwissenschaftliche, findet immer erst in einem „hermeneutischen Zirkel“ zu einem ganzheitlichen Sinnzusammenhang. Schließlich enthalten alle naturwissenschaftlichen Theorien und Gesetze menschliche Auslegungen (meist linguistischer Art), wogegen sich „Natur“ und „Materie“ selbst interpretationsfrei und nonverbal verhalten.

Differenziertheit

Die Naturwissenschaften waren nicht nur immer schon in ihren Anfangsgründen transzendental (über den reinen Gegenstand hinausgreifend, vor aller Erfahrung liegend) bestimmt (Kant 1786), sondern sind es mittlerweile sogar in ihren empirischen Ergebnissen durch Relativitätstheorien, Unschärferelation, Gestaltpsychologie, Unvollständigkeitstheorem, Systemtheorie, Konstruktivismus, Chaosphysik, Selbstorganisation (Autopoiese) und Synergetik so geworden (Caspart 1991, S. 26-71). Heute erscheint die physische Welt nicht mehr wie eine überdimensionale Maschine, sondern eher wie ein großer Gedanke (Capra 1983). Die Metaphysik (wörtlich „was über die Physik hinaus- oder ihr vorangeht“) bestimmte immer schon die Physik und ihre Tendenzen (Dilthey 1911), vor allem durch ihre Axiome. Metaphysik und Physik widersprechen einander nicht (Schrödinger 1959, Heisenberg 1979, Dürr 1986 oder Capra und Steindl-Rast 1991).

Kein System ist in sich geschlossen, sondern jedes bedarf einer entelechetischen Voraussetzung (Gödel 1931), wobei Entelechie meint, dass jedem Gegenstand ein übergreifender, ganzheitlicher und „höherer“ Zweck innewohnt. Aus der Falle der sehnsuchtsvollen Suche nach einer simplifizierenden Monokausalität hilft ein Blick auf die Synergetik mit ihren beiden Arten von Parametern (Einflussgrößen), den äußeren Kontrollparametern und inneren Ordnungsparametern (Haken 1982 und 1983). Unverzichtbar ist, die tatsächliche Mehrdimensionalität der menschlichen Erkenntnis einzusehen (Wilber 1977). Die nötige Differenzierung verkompliziert nicht die Einsicht in die Weltgegebenheiten, sondern verschiebt nur den Akzent vom Materialismus auf den Idealismus.

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Literaturnachweis
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Fritjof CAPRA: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Zuerst 1983. Aus dem Amerikanischen von Erwin SCHUHMACHER. Überarbeitete und erweiterte Neuauflage. Scherz Verlag, Bern 1986.
Fritjof CAPRA und David STEINDL-RAST: Wendezeit im Christentum. Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie. Aus dem Amerikanischen von Erwin SCHUHMACHER. Scherz Verlag, Bern 1991.
Wolfgang Caspart: Idealistische Sozialphilosophie. Ihre Ansätze, Kritiken und Folgerungen. Universitas Verlag, München 1991.
Wolfgang Caspart: Psychologie und Menschenrechte: Ideologiebildung als induzierte, noogene Reduktionsneurose. In: Erwin Riefler (Herausgeber): Popper und die Menschenrechte. Peter Lang Verlag, Frankfurt a.M. 2007, S. 29-39.
Lauren J. Chapman & J.P. Chapman (1967): Genesis of popular but erroneous psychodiagnostic observations. Journal of Abnor­mal Psychology, 71, S 193-204.
Wilhelm DILTHEY: Das Wesen der Philosophie. Zuerst 1907. Mit einer Einleitung herausgegeben von Otto Poeggeler.  Felix Meiner Verlag, Hamburg 1984 (Philosophische Bibliothek 370).
Wilhelm DILTHEY: Der Typus der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. Zuerst 1911. Gesammelte Schriften, Band 8, Weltanschauungslehre, Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2006.
Baruch Fischhoff (1977): Hindsight is not foresight: the effect of out­come knowledge on judgment under uncertainty. Journal of Experimental Psychology, 3, S 552-564.
Sigmund FREUD: Das Unbehagen in der Kultur. Zuerst 1930. Hrsg. von Lothar Bayer und Kerstin Krone-Bayer. Verlag  Reclam (Reclams Universal-Bibliothek 18697), Stuttgart  2010.
Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Zuerst 1960. Unveränderter Nachdruck der 3. erweiterten Auflage. Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen 1975.
Joseph Arthur Comte de GOBIBEAU: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (Zuerst 1853-1855: Essai sur l’inégalité des races humaines). 4 Bände. Deutsch von Ludwig Schemann, 5. Auflage, Fommann Verlag, Stuttgart 1939/40.
Kurt GÖDEL: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S. 173 ff.
Madison Grant: Der Untergang der großen Rasse. Die Rassen als Grundlage der Geschichte Europas. (Zuerst 1916: The Passing of the Great Race or the Racial Basis of European History). Verlag Julius Friedrich Lehmann, München 1925
Hans Friedrich Karl GÜNTHER: Herkunft und Rassengeschichte der Germanen. J.F. Lehmann Verlag, München 1935.
Ernst HAECKEL: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Zuerst 1899. Nachdruck der 11. Auflage, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1984.
Hermann HAKEN: Synergetik. Eine Einführung. Übersetzt von Arne WUNDERLIN. Springer Verlag, Berlin 1982.
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Werner HEISENBERG: Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze. Herausgegeben von Jürgen BUSCHE. Verlag Philipp Reclam, Stuttgart 1979 (Universal-Bibliothek 9948).
Carl Gustav JUNG: Über die Psychologie des Unbewußten. Zuerst 1942 (veränderte Fassung von: Die Psychologie der unbewusste Prozesse 1917). Ungekürzte Ausgabe, Fischer Taschenbuch-Verlag (Fischer Taschenbücher 6299), Frankfurt am Main 1975.
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Erwin SCHRÖDINGER: Geist und Materie. Verlag Vieweg, Braunschweig 1959.
Adam SMITH: An Enquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (Dt. „Eine Untersuchung über Natur und Ursachen des Wohlstandes der Nationen“, zuerst 1776). Deutsch von Horst Claus RECKTENWALD. Verlag C.H. Beck, München 1974.
P.C. Watson (1960): On the failure to eliminate hypotheses in a conceptual task. Quarterly Journal of Experimental Psycho­logy, 12, S 129-140.
Ken WILBER: Das Spektrum des Bewußtseins. Ein metapsychologisches Modell des Bewußtseins und der Disziplinen, die es erforschen. Zuerst 1977: The Spectrum of Consciousness. Aus dem Amerikanischen von Jochen EGGERT. Scherz Verlag, Bern 1987. (In: Soziologie heute, Heft 17, 6/2011, S. 20-21)
www.conservo.wordpress.com    15.07.2020
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