„Elf Tage in Kabul”: Das Desaster der Bundeswehr in all seinen Facetten!

Dieter Farwick, BrigGen. a.D.*

Vorab einige Worte zu meinem Kommentar zu „Elf Tage in Kabul“. Mir geht es nicht darum, auf einzelne Fehler oder Versäumnisse kritisch hinzuweisen. Mir geht es um das Gesamtbild am Ende des Einsatzes, das für mich als ehemaligem Berufssoldaten nicht zu verstehen – und nicht zu vergessen ist.

In meinen 39 Jahren als Vorgesetzter und Truppenführer habe ich Vorfälle erlebt, die für alle Beteiligten unerfreulich waren, aber das komplette Versagen der politisch Verantwortlichen sowie der militärischen Führung, wie es in dem Dreiteiler des „Spiegel“ in aller Deutlichkeit sehr eindringlich beschrieben wird, ist für mich nicht erklärbar und nicht zu rechtfertigen.

Ursache des Afghanistan-Debakels: Totalversagen auf allen Ebenen

Während des laufenden Krieges gab es in den Medien hin und wieder Berichte, die von einzelnen Fehlern und Versäumnissen berichteten. Sie blieben in der Regel an der Oberfläche. Der Spiegel-Dreiteiler „Elf Tage in Kabul“ hingegen zeichnet ein in die Tiefe gehendes Desaster – vom Mannschaftsdienstgrad bis zu Ministern.

In meinen viereinhalb Jahren als Operationschef in einem NATO-HQ habe ich mit meinem Team pro Jahr zwei Großübungen konzipiert, vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet. Eine Übung diente der Vorbereitung auf den Verteidigungsfall, die zweite galt dem nationalen und internationalen Krisen- Management – auch innerhalb des Programms „Partnership for Peace“.

Dafür wurden anspruchsvolle Übungen durchgeführt, um Fehler zu erkennen und abzustellen. Einen Bericht wie im Spiegel hat es nicht gegeben. In Nachbereitungen wurden Fehler besprochen und Verbesserungen in die Abläufe eingearbeitet.

Ein Untersuchungsausschuss muss eingesetzt werden

Mein Fazit: Der Bericht „Elf Tage in Kabul“ zeigt ein Bild auf, das ich noch heute nicht nachvollziehen kann. Es gab nur wenige Mannschaftsdienstgrade, die sich falsch verhalten haben. Gravierende Fehler wurden in den Spitzen der Politik und des Militärs gemacht. Deswegen fordere ich einen „Parlamentarischen Untersuchungsausschuss“, der seinen Bericht bis Ende des Jahres 2022 vorlegen muss – mit Hinweisen für strukturelle, materielle und personelle Veränderungen, die in der ersten Jahreshälfte 2023 begonnen werden müssen.

Als sofortige Führungsmaßnahme fordere ich – wie seit Jahren – einen Nationalen Sicherheitsberater mit einem interdisziplinären Stab, der die sicherheitspolitischen Entwicklungen systematisch und permanent beobachtet, um der deutschen Regierung ein proaktives Handeln zu ermöglichen. Bislang scheitert die Einrichtung an Partikularinteressen des BND und einzelner Ressorts, die eigene Machtverluste und schwindenden Einfluss auf die Regierung  befürchten. Das ist eine klare Ursache auch für das Debakel in Kabul.

Nur Fehleinschätzungen oder gar Verrat?

Der damalige Außenminister Maas wurde falsch beraten und blamierte sich mit seiner folgenschweren Einschätzung der noch verfügbaren Zeit für einen „geordneten Rückzug“. Diese Fehleinschätzung hat deutsche Menschenleben gekostet und viele afghanische Ortskräfte ihrem Schicksal unter der Herrschaft der Taliban überlassen. Man kann es auch Verrat nennen.

Die vorbereitende Ausbildung und Erziehung müssen deutlich umgestaltet werden – besonders für zivile und militärische Führungskräfte, denn die machen die entscheidenden Fehler. Sie müssen zunächst getrennt von den Mannschaften und Unteroffizieren auf ihre schwierigen Aufgaben vorbereitet werden. Dafür ist der Report des „Spiegel“ eine angemessene Vorlage. In nationalen und internationalen Stäben muss es eine klare „einheitliche Führung“ geben – mit einer klaren Aufgabenteilungen.

Auf die nächste Krise besser vorbereitet sein

In einer ersten Phase am Einsatzort ist die Infrastruktur zu erkunden. Es müssen klare Verantwortlichkeiten festgelegt werden. Schwachstellen müssen erkannt und beseitigt werden. Führungskräfte müssen ihre Nachfolger einführen. Sie selbst müssen ihr Team, ihre Nachbarn  und ihr Umfeld kennenlernen. Sie sollten die englische Sprache in ihren Bereichen hinreichend „beherrschen“ – bereits in der Vorbereitung.

Die nächste große Krise kommt bestimmt in den nächsten 10-15 Jahren – sei es durch Naturkatastrophen oder militärische Einsätze. Deutschland sollte personell und materiell besser vorbereitet sein. Eine gute Vorbereitung ist die „halbe Miete“.

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*) Brig. General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen und anschließend Berufssoldat. Einen Höhepunkt seiner Karriere bildete die Tätigkeit im Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, wo er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig war. In den 90er Jahren fand er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte Verwendung und war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt. Schon während seiner Dienstzeit verfasste Farwick mehrere Bücher und andere Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte. Im „Ruhestand“ engagierte er sich viele Jahre als Chefredakteur eines Newsservice für sicherheitsrelevante Themen und organisiert heute noch Tagungen zu diesem Thema an renommierten Instituten.

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