Der “Drei-Tage-Krieg”: Geschundene Ukraine, blamiertes Russland, alarmiertes Europa

Peter Helmes

Auch und erst recht nach dem ukrainischen Unabhängigkeitstag gestern (24.8.) – also nach dem ersten halben Jahr des russischen Angriffskrieges – steht die Lage der Ukraine im internationalen Blickpunkt. Die Lage ist sehr ernst, aber eben nicht hoffnungslos. Und wenn die Europäer am Ball bleiben, also sich ihrer Verantwortung gewachsen zeigen, ist die Lage nicht aussichtslos.

Seit sechs Monaten bombardiert Russland hemmungslos ukrainische Schulen, Krankenhäuser und Wohnungen. Frauen werden vergewaltigt und Kinder entführt. Aber die Ukraine hat wider Erwarten standgehalten. Putin glaubte wohl, es würde schnell vorbei sein. Allenfalls ein paar Wochen, dann würde Kiew in die Knie gezwungen, Präsident Selenskyj ermordet und eine russische Marionette an seiner Stelle installiert sein. Aber es kam anders. Die Ukrainer leiden, aber halten durch.

Nichts zu feiern

Sechs Monate nach Beginn von Putins Invasion in der Ukraine gibt es allerdings nichts zu feiern, schon gar nicht für Russland, dessen Politik- und Militärführer sich „nach besten Kräften“ blamiert haben. Ein halbes Jahr Krieg hat noch nicht einmal dazu geführt, eine Denkpause einzulegen und die Bedingungen für eine Deeskalation zu prüfen. Aber was eine dreitägige Spezialoperation werden sollte, ist ein blutiger Krieg geworden, der nunmehr seit sechs Monaten andauert. Und die Schmerzen des russischen Überfalls sind weltweit zu spüren.

Putin hofft vermutlich, daß der Winter mit Energiemangel und hohen Rechnungen die Moral der Europäer untergräbt und unsere Hilfsbereitschaft senkt. Die Folgen dieses Krieges sind in Europa längst in Form explodierender Energiepreise und einer Inflation festzumachen, die so bald nicht abklingen wird. Europa könnte am Rande einer Rezession stehen; denn Russland setzt auf den Winter, um die Kriegsmüdigkeit an die Energiefront zu verlagern. Putins Taktik, Europa den Gashahn zuzudrehen, hat den gewünschten Effekt. Die Energiekosten steigen, und die Rechnungen setzen die Verbraucher unter Druck. Die Zeit ist aber nur auf Putins Seite, wenn Europa dies zuläßt.

Deutschland ist die Achillesverse der Ukraine

Die Russen haben einen beachtlichen Teil ihrer militärischen Führung und einen beträchtlichen Teil wichtiger militärischer Ausrüstung verloren. Die NATO wurde nicht, wie beabsichtigt, in die Schranken gewiesen. Vielmehr wurde sie gestärkt, da die äußerst fähigen Streitkräfte Finnlands und Schwedens auf dem besten Weg sind, dem atlantischen Bündnis beizutreten. Die Frage ist nun, wie es weitergeht. Russland darf sich nicht mit einem brutalen, unprovozierten Feldzug gegen seinen souveränen Nachbarn durchsetzen.

Die Ukrainer werden befürchten, daß ein wirtschaftlicher Druck die Unterstützung für die Kriegsanstrengungen beeinträchtigen wird. Zweifellos werden sie besorgt auf die großen europäischen Länder blicken, vor allem auf Deutschland, wo die Entschlossenheit angesichts möglicher Stromausfälle und Energierationierungen schwinden könnte.

Deutschland hat in der letzten Woche zwar mit Kanada eine Kooperation bei der Herstellung von grünem Wasserstoff vereinbart. Aber der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz streifte etwas verzweifelt durch die Rohstoff-Abteilung des weiten Landes. Kanada wird Wasserstoff aus emissionsarmen oder erneuerbaren Ressourcen entwickeln – mit dem Ziel, ihn ab 2025 nach Deutschland zu exportieren. Das aber ist, vorsichtig ausgedrückt, ein ehrgeiziger Zeitplan, da die Infrastruktur noch gar nicht gebaut ist.

Die Ukraine braucht zeitnah militärische Erfolge

Neue Herausforderungen gibt es zusätzlich: Die ukrainische Armee benötigt militärische Erfolge noch vor dem Wintereinbruch. In der Ukraine sind vor allem im Osten starke Schneefälle und Temperaturen von bis zu 20 Grad minus nichts Ungewöhnliches, und wenn die Verkehrswege unpassierbar werden, beeinflußt das die Logistik und erschwert generell Militäroperationen. Deshalb ist es für die Ukraine so wichtig, noch vor dem Winter möglichst große Erfolge zu erzielen und zu verhindern, daß sich die Russen langfristig in den besetzten Gebieten etablieren.

Eine alte Erfahrung droht bestätigt zu werden: Kalte Winter haben Russland in der Vergangenheit bereits mehrmals geholfen, Gegner zu besiegen. Am deutlichsten erfuhren dies Napoleon und Hitler. Nun setzt Putin wohl darauf, daß explodierende Energiepreise und Versorgungsengpässe dazu führen, daß die EU die Ukraine zu einem Waffenstillstand drängt – und zwar zu seinen Bedingungen. In dem Fall würde Putin auf Zeit spielen und warten, ob ein harter Winter in Europa für Proteste und Unruhen sorgt. Manche Staats- und Regierungschefs würden es sich dann vielleicht zweimal überlegen, ob sie die Ukraine weiter unterstützen.

Derzeit hat niemand die Kraft, einen entscheidenden Schlag zu vollführen, obwohl beide Seiten Reserven sammeln. Es ist zu vermuten, daß der Kreml bald Zehntausende neuer Soldaten zur Verfügung haben wird – schlecht ausgebildet und nicht sehr gut bewaffnet, aber ausreichend, um die Front mit dieser schieren Masse zu durchbrechen. Ein halbes Jahr Kampf gegen die Invasion hat aus allen Ukrainern eine Nation geschmiedet.

Putins Plan ist definitiv gescheitert

Aber es gibt keine Möglichkeit mehr, die Ukraine zu zerstören, wie der Kreml dies möchte. Er spricht dem Land weiterhin die Existenzberechtigung ab. Die Ukrainer bereiten sich nun selbst auf einen Angriff vor, und wenn sie zuerst zuschlagen, haben sie tatsächlich ein Siegeschance – die russische Armee ist demoralisiert und ohne jeglichen Kampfwillen.

Aber auch das gehört zur Wahrheit: Auf beiden Seiten kamen zehntausende Soldaten ums Leben. Die Realität zeigt, daß die moderne Kriegsführung auch die ultimative Verletzung der Menschenrechte bedeutet. Die Gedanken von Putin und seinen Leuten in Moskau kann man nur als unheimlich bezeichnen. Einzig Russland kann diese Tragödie stoppen, und das Land hat auch die Verpflichtung, dies zu tun.

Russland führt einen Mehrfronten-Krieg

In Kiew und Moskau gibt es erkennbar große Sorgen über den Verlauf des Krieges. Putin macht zweifellos die riesige russische Opferliste zu schaffen, die auf bis zu 60.000 geschätzt wird, und auch, daß sein ursprünglicher Plan, Kiew einzunehmen, trotz der großen militärischen Überlegenheit Russlands völlig gescheitert ist. Es ist schwer vorstellbar, daß es innerhalb des Regimes keine ernsthaften Zweifel am Krieg und an dessen siegreichen Ausgang gibt. Kiew ist seinerseits nach wie vor darauf bedacht sicherzustellen, daß die westliche Unterstützung – die für das Land in militärischer, diplomatischer und humanitärer Hinsicht so wichtig ist – nicht nachläßt.

Inzwischen sind zu den militärischen auch noch diplomatische, energiepolitische und finanzielle Schlachtfelder hinzugekommen. Sobald die Flammen des Krieges erst einmal entfacht sind, ist es sehr schwer, sie zu kontrollieren und die Richtung, in der sie sich ausbreiten, zu beeinflussen. Nicht nur zwischen der Ukraine und Russland herrschen nun Haß  und Feindseligkeit. Auch zwischen Russland und Europa ist das Tischtuch zerrissen, und die Wunden werden mit der Zeit immer tiefer.

Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit

Die negativen Folgen des Krieges machen sich auch in der EU immer deutlicher bemerkbar. Inzwischen macht man sich auf einen der schwierigsten Winter seit der Ölkrise gefaßt; denn die Gaslieferungen stocken, und die Energiepreise sind deutlich gestiegen. Auch erreicht der Krieg viele Schwellen- und Entwicklungsländer in Form gestiegener Getreidepreise. Putin hat mit seinem ebenso unbedachten wie kritikwürdigen Entschluß eine Katastrophe verursacht. Es bleibt jetzt nichts anderes übrig, als die Bemühungen zu verstärken, um die Aggressionen zu stoppen und Verhandlungen einzuleiten, die den Krieg beenden können.

Und allen Zweiflern sei ins Stammbuch geschrieben: Die Ukraine kämpft nicht nur für ihre Unabhängigkeit und Freiheit, sondern auch für den Grundsatz, daß es Aggressorstaaten nicht erlaubt sein sollte, Grenzen mit Gewalt neu zu ziehen. Nachdem Putin 2014 die Krim annektiert hatte, waren westliche Staats- und Regierungschefs überzeugt, sie hätten durch Sanktionen genug getan, um ihn davon abzuhalten, noch weiter zu gehen. Ohnehin war es nicht in ihrem Interesse, einen Stellvertreterkrieg mit Russland zu führen. Sie haben sich geirrt. Zu den Folgen dieser schrecklichen Fehleinschätzung gehören die Gräueltaten, die heute in der Ukraine verübt werden.

Die europäischen Länder müssen sich ihrer Verantwortung bewußt sein. Sie haben mit Nordstream und ihrer Abhängigkeit von russischem Gas im Vorfeld dieses Krieges strategische Fehler begangen. Wenn sie ihre Seele und ihre Zukunft bewahren wollen, müssen sie jetzt zusammenstehen und Putins Russland bändigen – solange es auch dauern mag. Das sind sie sich selbst und erst recht den Ukrainern schuldig.

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