Olaf Scholz: Deutschland muss zur USA der EU werden!

Peter Helmes

In seiner 60-minütigen Grundsatzrede positionierte Bundeskanzler Olaf Scholz sich am 29.08.22 in Prag erstmals umfassend zur Europapolitik. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine – für Scholz eine „Zeitenwende“ – spielte dabei eine große Rolle. Für den Kanzler stelle die Europäische Union ursprünglich ein nach innen gerichtetes Friedensprojekt dar. Nun müsse die EU ihre Werte verteidigen und ihre Unabhängigkeit sowie Stabilität auch nach außen sichern. 

„Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen – etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten. Der brutale Überfall auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung.“ 

Olaf Scholz

Umstrittene Zentralisierung der EU-Außenpolitik 

Die Rede des deutschen Regierungschefs an der Prager Karls-Universität war zu einem großen Teil Verteidigungsfragen gewidmet. Scholz sprach sich entschieden für eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten der Europäischen Union und für eine Zentralisierung der EU-Außenpolitik aus. So unterstützte der Kanzler kategorisch die Idee, bei der Annahme bestimmter Beschlüsse auf EU-Ebene auf die Einstimmigkeit zu verzichten. Diese Idee wird von vielen europäischen Politikern unterstützt, zum Beispiel von Josep Borrell, dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik.  

Doch einige Länder sind dagegen. Am konsequentesten: Ungarn. Die Rolle Deutschlands sollte nach den Worten des Kanzlers darin bestehen, für die Sicherheit der östlichen EU-Mitglieder zu sorgen, zumindest im Bereich der Luftverteidigung, möglicherweise aber auch in anderen Bereichen. Somit sollte die Bundesrepublik zumindest teilweise jene Funktionen übernehmen, die heute die USA haben.

Als Emmanuel Macron vor fünf Jahren seine Visionen für Europa vorgetragen hat, wählte er dafür die Sorbonne. Scholz aber fuhr über die Grenze und sprach an der Prager Karlsuniversität. Das ist keineswegs ein Detail. Daß Scholz ins Nachbarland fuhr, gibt seiner Rede eine noch größere Bedeutung. Scholz mühte sich zu unterstreichen, daß es Deutschland nicht darum gehe, dem Rest Europas seine Ideen zu diktieren, sondern um die Suche nach gemeinsamen europäischen Lösungen. 

Scholz strebt nach mehr Größe und Macht

Der Schlüssel dazu ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips: Wenn einzelne nationale Regierungen unliebsame Beschlüsse in der Zentrale nicht mehr blockieren können, geben sie Garantien für ihre nationale Souveränität auf. Scholz hielt seine Rede bewußt in Tschechien als Geste an die mehrheitlich kleinen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten.  

Doch das verleiht seinen Ideen nicht einen höheren Realitätsgehalt. Gerade die Ostmitteleuropäer, die ihre nationale Souveränität erst nach dem Mauerfall wiedergewonnen haben, legen besonderen Wert darauf, nicht von den großen westeuropäischen Staaten überstimmt und dominiert zu werden. Und das mit gutem Grund. Sie wollen nicht in der von Scholz postulierten europäischen „Wertegemeinschaft“ aufgehen – und schon gar nicht auf die gerade erst gewonnene Souveränität verzichten.. 

Der Kanzler testet, wann die anderen zucken!

Scholz ist kein Selbstmörder, der mit dem Kopf gegen die Wand rennt. Es handelt sich wohl eher um einen Versuchsballon, um festzustellen, inwieweit die Mitgliedstaaten zu Änderungen bereit sind. Die russische Aggression gegen die Ukraine hat gezeigt, daß sich die Union reformieren muß, um schnell und entschieden handeln zu können. Anfangs wird es indes um schrittweise Änderungen gehen, im Rahmen oder am Limit der bestehenden Regeln. Eine Änderung der Verträge wäre die optimale Lösung, ist aber eher eine rein theoretische Option. Handstreichartige Änderungen sind dabei kein geeignetes Mittel, kritische Stimmen verstummen zu lassen. 

Gerade die „neuen“ europäischen Mitglieder beobachten die Haltung Deutschlands und Frankreichs sehr genau, um nicht zu sagen argwöhnisch. Befehlsempfänger waren sie bei den Sowjets lange genug. Scholz wird also seinen Versuchsballon nochmals gründlich überdenken müssen. 

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