Zerstörter Staudamm: Putin ist der Pantokrator dieses Krieges und aller seiner Folgen

Peter Helmes

Die Flutwelle erweitert den Krieg um eine zusätzliche düstere Perspektive. Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine wird zwar weltweit über die Schuldfrage bzw. die Suche nach Schuldigen gesucht, aber den bzw. die Schuldigen zu finden, dürfte lange dauern. Verdachtsmomente gibt es zuhauf, aber sie müßten durch Beweise untermauert werden.

Es wurden Raketen auf Krankenhäuser abgeschossen, auf ein Theater in Mariupol und auf einen Bahnhof voller Zivilisten, die die Flucht ergreifen wollten. Man foltert Menschen, erschießt Passanten, jagt Vertreter der Elite. Dazu paßt nun auch die Sprengung des Staudamms, was die Russen bestreiten. Es ist schwer, ihnen zu glauben – sie haben schon so oft gelogen. Und vor allem ist es ihr Stil. Die Russen kümmern sich nicht um Menschenleben, es ist ihnen egal, ob es sich bei den Opfern um Zivilisten, Kinder oder alte Menschen handelt.

Vor allem die Bevölkerung soll eingeschüchtert werden

Die Zerstörung des Staudamms soll einschüchtern – doch der Schritt wurde wohl auch aus Angst unternommen. Aus Angst vor der ukrainischen Gegenoffensive, vor der Rückeroberung der geplünderten Gebiete, vor der Wiederherstellung des richtigen Grenzverlaufs. Wenn man die alltäglichen russischen Verbrechen in der Ukraine betrachtet, muß man es einfach öfter betonen und bestehende Resolutionen zitieren: Russland ist ein Terrorstaat.

Schon lange wurde die Ukraine gewarnt, daß so etwas passieren könnte, zumal die Angst vor der ukrainischen Gegenoffensive das Motiv Russlands erklärt. Wenn sich Russland deshalb zurückziehen muß, will es verbrannte Erde – oder in diesem Fall überflutetes Land – hinterlassen. Bevor Moskau sein russisches Roulette weiterspielt, müssen sich die Verbündeten der Ukraine fragen, wie sie auf die Staudammkatastrophe reagieren wollen. Russland muß jetzt noch stärker isoliert werden, und die Friedenspläne aus China oder Indonesien sind nicht ernst zu nehmen.

Medien bei Schuldzuweisung unsicher

In den westlichen Medien findet man Veröffentlichungen, die erklären, wie der Dammbruch sowohl für Russland als auch für die Ukraine von Vorteil sein kann und warum er gleichzeitig für beide ein Problem darstellt. Moskau gibt keines der erklärten Ziele der Sonderoperation auf. Kiew erklärt, der Konflikt werde erst enden, wenn die Ukraine zu ihren Grenzen von vor 2014 zurückgekehrt sei, obwohl selbst westliche Militäranalysten die Realisierbarkeit solcher Pläne bezweifeln.

Die Auseinandersetzungen dauern nun schon mehr als 15 Monate an, und es ist sehr schwer vorstellbar, daß in diesem Zusammenhang ein aktives Handeln eines Beteiligten zur Deeskalation beitragen könnte. Die Logik des Konflikts liegt in dieser Phase in seiner ständigen Vertiefung.

Schon die ersten Stunden der gerade angelaufenen ukrainischen Offensive haben gezeigt, wie verlustreich die Kämpfe werden. In den von Russen verminten Feldern nahe Saporischschja gingen mehr als ein Dutzend US-Schützenpanzer und deutsche Leopard-Kampfpanzer verloren. Der Westen sollte zusagen, alle Verluste an Gerät schnell zu ersetzen. Auch als starkes Signal in Richtung Moskau.

Dammburch nur ein Vorgeschmack des Untergangs bei Sieg der Russen

Was droht, wenn die Ukraine scheitert, zeigte sich nach dem Staudammbruch. Während der Evakuierungen beschoß die russische Artillerie ukrainisches Gebiet und Treffpunkte für die in Sicherheit zu bringenden Zivilisten. Ein erneuter Beleg, daß Moskau bei der Durchsetzung seiner Ziele ohne Gewissen und Moral ist.

Man kann die Wut der Ukrainer, die unter den ungerechten, unmenschlichen Taten leiden, verstehen. Dennoch steht auch die Ukraine selbstverständlich in der Pflicht, das Völkerrecht zu achten. Kiew sollte sich ernsthaft mit den Themen wie Anti-Personen-Minen, auf deren Verwendung durch die ukrainische Armee Menschenrechtsgruppen hinweisen, auseinandersetzen. Es besteht die Gefahr, daß im Laufe der immer schlimmer werdenden Gefechte das Völkerrecht außer Acht gelassen werden könnte

Eine Katastrophe für viele unschuldige Menschen

Wer dahinter steckt, steht noch nicht fest, aber sicher kann hingegen festgestellt werden, daß die Zerstörung des Staudamms eine Katastrophe für viele unschuldige Menschen ist. Die Flutwelle erweitert den Krieg um eine zusätzliche düstere Perspektive, durch chemische Verunreinigungen und Zerstörung der Infrastruktur.

Der Krieg hat bereits Millionen Menschen in die Flucht getrieben und zehntausende Leben gefordert, natürlich vor allem unter ukrainischen Zivilisten, aber auch unter russischen Soldaten, die wegen Putins imperialen Träumen mit miserabler Ausrüstung als Kanonenfutter an die Front geschickt werden. Es sind die unschuldigen Opfer, die den Preis für einen Krieg bezahlen, während wir das weitab der Front in unserem Alltag nur allzu leicht vergessen.

In der Tat, ein absichtlich herbeigeführter Dammbruch, der zu Überschwemmungen führt, wäre eine Fortsetzung der russischen Strategie. Russland hat kritische Infrastrukturen angegriffen, um die Moral und die Kampfkraft der Ukraine zu schwächen. Sollte der Damm jedoch ohne Einwirkung von außen zusammengebrochen sein, dann wäre es Russlands Versäumnis gewesen, den Damm zu reparieren. Nachdem er vor Monaten bei Kämpfen beschädigt wurde, käme das in Verbindung mit den jüngsten ungewöhnlich hohen Wasserständen im Grunde genommen einer kriminellen Fahrlässigkeit gleich.

Russland ist mindestens schuldig durch Unterlassen

Selbst wenn die Besatzer das Bauwerk nicht sprengten, so haben sie mit ihrem Verhalten ein inakzeptables Risiko heraufbeschworen. Aus ungeklärten Gründen unterließen sie es, mit dem Öffnen zusätzlicher Schleusentore den Wasserstand im Stausee auf ein normales Niveau zu bringen. Eine genaue forensische Untersuchung anhand der vorliegenden Indizien wäre für eine Klärung nötig, aber das Putin-Regime wird dazu sicherlich keine Hand bieten.

Eine kurzfristige Lehre muß jedoch lauten, trotz Krieg auf die Einhaltung minimaler Sicherheitsstandards in solchen Industrieanlagen zu pochen. Vergeblich hatte die ukrainische Regierung schon im letzten Herbst um eine internationale Überwachung des Kachowka-Damms gebeten. Hätte die Staatenwelt dies mit Nachdruck eingefordert, hätte sich die Katastrophe vielleicht verhindern lassen.

Selbst wenn sich herausstellen sollte, daß der Grund für den Dammbruch Inkompetenz war, gibt es keinen Zweifel daran, daß Russland und sein illegaler Angriffskrieg schuld sind. Die Ukraine ist zwar nicht perfekt – Korruption ist ein erhebliches Problem und Journalisten wird damit gedroht, deren Presseakkreditierungen einzubehalten, um eine positivere Berichterstattung zu erzwingen. Aber was auch immer die Makel der Ukraine sind, das Land ist auf der richtigen Seite der Geschichte im Kampf gegen den russischen Aggressor.

Das Verschieben von Grenzen mit Waffengewalt darf nicht goutiert werden

Die Ukraine verteidigt nicht nur ihre eigene Souveränität, sondern das Prinzip, daß Grenzen nicht mit Waffengewalt verschoben werden dürfen. Ukrainer sterben, um nicht nur sich selbst zu verteidigen, sondern für unsere kollektive Sicherheit.

Optimisten deuten die Katastrophe als einen Ausdruck russischer Verzweiflung. Vielleicht ist das so, aber es entspricht auch genau der Art, wie Russland den Krieg betreibt. Ohne Rücksicht auf das Kriegsrecht, das Leid der Zivilbevölkerung oder die langfristigen Konsequenzen.

Die ukrainische Offensive wird sich an die neuen Gegebenheiten anpassen müssen, die durch die Flut entstanden sind. Die Offensive wird sich an die Ostfront verlagern müssen, wo bereits neue Gefechte stattgefunden haben, darunter kleine Vorstöße in Bachmut. Kiew wird nicht nur seine Schlachtpläne ändern, sondern auch viel Energie darauf verwenden müssen, die von der Flut abgeschnittene Bevölkerung zu retten und zu versorgen.

Verheerende psychologische Folgen

Die psychologischen Folgen der Zerstörung des Staudamms sind verheerend. Die vielleicht größte Konsequenz wird eine Neubewertung der Frage sein, wie weit die Russen zu gehen bereit sind. Viele haben monatelang behauptet, die Möglichkeit, daß Putin einen nuklearen Zwischenfall auslöst, sei weit hergeholt. Jetzt nicht mehr. Die EU wirft Russland eine ‚barbarische Aggression‘ vor. Doch bereits im Oktober hat der ukrainische Präsident Selenskyj davor gewarnt hat, daß die Russen den Damm vermint haben – und internationale Beobachter vor Ort gefordert. Nichts wurde unternommen. Er muß sich fragen, wie oft der Westen noch von Russland schockiert werden kann, bevor er Selenskyjs Analyse als realistisch und nicht als Panikmache ansieht.

Man darf schon jetzt feststellen, daß sich Russland generell in eine schlechte Lage manövriert hat. Der Sumpf, in den Russland im Ukraine-Krieg geraten ist, wird immer größer. Vor dem Ukraine-Krieg galten die russischen Streitkräfte als die zweitstärkste Armee der Welt. Jetzt stellt sich heraus, daß Russland weit von modernen Kriegstechnologien entfernt ist. Das hat auch damit zu tun, dass Militärbeamte Gelder veruntreut haben, weil sie dachten, daß  niemand es wagen würde, gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Zudem heißt es, zwischen Wagner-Söldnern und der russischen Armee herrsche ein unerklärter Kriegszustand.

Mit anderen Worten: Russland bewegt sich immer mehr auf einen Bürgerkrieg zu. Die oppositionellen russischen Militärgruppen, die besser bewaffnet sind als die russische Armee, haben bereits in vielen Teilen des Landes mit Operationen begonnen. Bald könnten sie mehr Unterstützung von der russischen Gesellschaft bekommen.

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