Die Formierung der EU – am deutschen Wesen…

Von Peter Helmes *)

Deutschland, die Gouvernante Europas

europaIn EU-Europa knirscht es heftig im Gebälk, das Gebäude wackelt. Am deutschen Wesen solle Europa genesen, ist der durchgängige Vorwurf gegen die derzeitige deutsche Politik bei unseren Nachbarn. Diplomatie scheint keine deutsche Tugend zu sein, eher: Mit dem Kopf durch die Wand, koste es, was es wolle.

Deutschland – genauer: Frau Merkel – legt die Ziele vor, und der Rest Europas möge sich bitte daran halten, und das ungeachtet der jeweiligen nationalen, ökonomischen und erst recht historischen Dimension. Spricht man mit ausländischen Politikern, wird schnell deutlich, was sie vor allem atmosphärisch an unserem Vorgehen stört: Es wird diktiert und nicht diskutiert. Deutschland geriert sich als Gouvernante Europas. Deutsche erzählen den ungezogenen Europäern, vor allem südlicher Herkunft, wie man sich im gemeinsamen europäischen Haus „richtig“ zu benehmen hat.

„Die sind selbst schuld, wenn sie keine Austeritätspolitik betreiben bzw. betrieben haben, jetzt zeigen wir ihnen die Werkzeuge…“ – das ist nach ausländischer Meinung die Denkweise der derzeitigen deutschen Politik. Hochmut werfen sie uns vor, nicht ganz zu Unrecht. Und wer nicht spurt, dem droht die „Hydra Mehrheitsentscheidungen“, also letztlich die Aufgabe der nationalen Souveränität, von der eh nicht mehr allzu viel vorhanden ist – übrigens unter Vorreiterschaft der Deutschen.

Daß eine solche Handlungsweise gerade bei den mittel- und osteuropäischen europäischen Nachbarn auf tiefes Mißtrauen stößt, dürfte einem geschichtsbewußten Politiker eigentlich erkennbar sein. Aber nein, die deutsche „Tante Gouvernante“ verlangt Unterordnung und droht jeder Insubordination Strafe an.

EU-Wahn – Triebfeder der europäischen Großmannssucht

Triebfeder deutschen Handelns ist eine Art EU-Wahn: „Wir wollen das Vereinte Europa!“ Die „Vereinigten Staaten von Amerika“ stehen gedanklich Pate. Wie kurzsichtig! In den USA waren keine über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gewachsene Staaten bzw. Nationen zu integrieren, sondern eingewanderte Neuamerikaner, die erst mählich ein US-amerikanisches Bewußtsein entwickelten, woraus erst eine US-amerikanische Identität erwachsen konnte.

Und was ebenso (gerne) von unseren EU-Trunkenen übergangen wird: Die Väter der Europäischen Union, de Gasperi, Adenauer, de Gaulle usw., dachten nicht im Entferntesten daran, die jeweilige nationale Souveränität aufzugeben. Ihre Vorstellung war vielmehr ein „Europa der Vaterländer“ (sic!). Unsere geifernden „Europäer“ denken aber in Großmannssucht-Kategorien, nämlich an eine europäische „USE“ (United States of Europe). Wenn Frau Merkel diesen Traum träumt, dann sieht sie sich gewiß auch an der Spitze der Bewegung.

Eine „europäische Identität“?

Selbst wenn man sie anstrebte, dauerte es Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, bis die Traditionen und Kulturen unserer Völker sozusagen unter einen Hut gebracht werden könnten. Man kann dies z. B. am Wiedererwachen der Regionen in den einzelnen europäischen Ländern nachvollziehen. Je stärker der Ruf nach Europa wurde, desto stärker besannen sich die Bürger auf ihre regionale Identität, angefangen vom heimischen Idiom über die regionale Kultur)-Pflege) bis zur heimischen Küche und letztlich bis zur Forderung nach mehr Einfluß der Regionen auf die EU-Politik. Nicht von ungefähr entstand diese Gegenbewegung in der Musik: Es gab (und gibt) immer mehr Lieder in Mundart – von Spanien bis Deutschland. Fünf große Musikgruppen alleine aus Köln haben nationale und internationale Bedeutung erlangt. Gleiches gilt für viele andere Regionen.

Nicht von ungefähr wurde 1994 der „Ausschuß der Regionen“ (AdR) in der EU gebildet, einer beratenden Einrichtung der EU, die sich aus lokal und regional gewählten Vertretern aller 28 Mitgliedsländer zusammensetzt. Diese können über den AdR Stellungnahmen zu EU-Rechtsvorschriften abgeben, die sich direkt auf ihre Regionen und Städte auswirken und ohne deren Anhörung bzw. Mitwirkung kaum noch etwas geht.

Dies alles scheint Frau Merkel nicht zu kümmern, sie macht „ihr Ding“ – geschichtslos, traditionslos. Woher auch nicht? Sie hat keine heimische Identität. Als „gelernte Sozialistin“ sowieso nicht, aber auch nicht regional gesehen: Sie ist keine Hamburgerin und keine Mecklenburgerin. Ob sie deutsch fühlt, ist eher offen. Vermutlich betrachtet sie sich als mondiale Lichtgestalt – jedenfalls den Niederungen des nationalen Daseins entrückt.

Hier eine Zustandsbeschreibung der europäischen gegenwärtigen Situation:

Die Gängelung Polens

Auf deutschen Druck hat am 13.01.d. J. die EU-Kommission eine Prüfung der polnischen Regierungspolitik auf Rechtsstaatlichkeit eingeleitet. Gegenstand des Verfahrens sind die Maßnahmen der neuen polnischen Regierung gegen das Verfassungsgericht des Landes sowie die offene Unterordnung der öffentlich-rechtlichen Medien unter die staatliche Politik. Ausgerechnet deutsche Politiker haben in der Angelegenheit bereits mit Sanktionen gedroht.

Während die polnischen Maßnahmen unzweifelhaft die Freiheit der Medien auf die Probe stellen, blendet das Verfahren aus, daß identische oder ähnliche Praktiken in diversen anderen EU-Staaten verbreitet sind, darunter insbesondere Deutschland.

Mit seinen Strafdrohungen gegen Polen verstärkt Berlin allerdings den Druck auf nicht willfährige EU-Staaten und treibt damit die weitere Formierung der EU voran.

Diese Formation ist auf ökonomischer Ebene bereits weit gediehen. Im Verlauf der Eurokrise ist es der Bundesregierung gelungen, der Eurozone die deutsche Austeritätspolitik notfalls auch gegen demokratische Entscheidungen zu oktroyieren.

Die politische Formierung hat inzwischen ebenfalls begonnen – mit der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in Brüssel.

Ziel ist es, die EU in eine weltpolitisch bedeutende Macht zu transformieren, die auch militärisch ohne hemmende Widerstände einzelner Mitgliedstaaten kurzfristig interventionsfähig ist.

„Jetzt wird Deutsch gesprochen“

Auf ökonomischer Ebene ist die Disziplinierung der EU-Staaten durch Berlin bereits recht weit gediehen. Vollzogen hat sich dieser Prozess im Verlauf der Eurokrise. Der Bundesregierung ist es dabei gelungen, die gesamte Eurozone auf eine harte Austeritätspolitik festzulegen, wie sie in Deutschland mit der Agenda 2010 forciert wurde.

Die Machtkämpfe darum sind erbittert gewesen und in hohem Maße von Berlin und Paris als den zwei stärksten Gegenpolen ausgefochten worden; Berlin hat damals den Sieg davongetragen (german-foreign-policy.com berichtete [1]).

„Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen“, triumphierte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, im November 2011, als in der Eurokrise die Weichen im Sinne Berlins gestellt worden waren.[2]

Dennoch flackert bis heute immer wieder Widerstand gegen die Berliner Spardiktate auf – zumeist in Frankreich, in Spanien, in Italien, in Portugal [3] oder in Griechenland. Er wird von deutscher Seite stets brüsk in die Schranken gewiesen, nicht selten auch von deutschen EU-Funktionsträgern. Als Frankreich Ende Oktober 2014 aus Brüssel die Erlaubnis erhielt, seine Staatsverschuldung mit Verzögerung unter die Drei-Prozent-Grenze zu senken, da wetterte EU-Kommissar Günther Oettinger, Brüssel müsse mit „Härte“ gegen Frankreich vorgehen. Der CDU-Mann beschimpfte den Nachbarstaat in einem Zeitungsbeitrag als “Wiederholungstäter”.[4]

„Wo die Demokratie nichts zu suchen hat“

Der Oktroy der Berliner Austeritätspolitik ist auch unter offenem Bruch mit demokratischen Gepflogenheiten vollzogen worden. Italien etwa wurde vom 16. November 2011 bis zum 28. April 2013 von einem “Expertenkabinett” unter dem Ökonomen Mario Monti regiert, das nicht durch demokratische Wahlen legitimiert war.

In mehreren EU-Staaten wurde – und wird zum Teil bis heute – die nationale Politik von einer gleichfalls nicht demokratisch legitimierten Kontrollinstanz, der “Troika”, überwacht. Im Juli 2015 hat die EU auf deutschen Druck sogar ein ausdrückliches Votum der griechischen Bevölkerung ignoriert und – gegen den Referendumsentscheid, Abstand vom Austeritätszwang zu nehmen – die Spardiktate sogar noch verschärft.[5]

Daß die Austeritätspolitik nach deutschen Vorstellungen Vorrang vor demokratischen Entscheidungen hat, ist in einer führenden deutschen Tageszeitung mit Bezug auf staatliche Verschuldung folgendermaßen ausgedrückt worden: „Es gibt ein paar Dinge auf der Welt, wo die Demokratie nichts zu suchen hat. Schulden zum Beispiel.“[6]

“Keine leere Drohung”

Jenseits der ökonomischen Sphäre wird die Disziplinierung vor allem kleinerer EU-Staaten inzwischen mit der Methode der Mehrheitsentscheidungen vorangetrieben. Diese sind seit einiger Zeit auf neue Bereiche ausgeweitet worden, nicht zuletzt durch den Vertrag von Lissabon, der spezifische Regeln für “qualifizierte Mehrheitsentscheidungen” eingeführt hat.

Demnach wird bei der Stimmgewichtung in der EU auch die Größe der Bevölkerung berücksichtigt – eine Regelung, die für den mit Abstand bevölkerungsreichsten Mitgliedstaat Vorteile hat; dies ist Deutschland. Laut dem Vertrag von Lissabon können mindestens vier Staaten, die gemeinsam mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung stellen, einen Beschluß per Sperrminorität verhindern.

Dies macht es fast unmöglich, Deutschland zu überstimmen, das allein knapp 16 Prozent der EU-Bevölkerung stellt und nur wenige Verbündete benötigt, um die Sperrminorität zu erreichen.

Im September sind erstmals vier Mitgliedstaaten in einer Frage überstimmt worden, der sie zentrale Bedeutung beimessen: Ungarn, Rumänien, Tschechien und die Slowakei lehnen die Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten ab, wurden jedoch per Mehrheitsentscheidung zu ihr verpflichtet.

Die Tatsache, daß die Entscheidung humanitären Maßnahmen galt, trägt zur Legitimierung des Mehrheitsprinzips bei; sie lenkt allerdings davon ab, daß das Mehrheitsprinzip auch bei anderen Entscheidungen zur Anwendung kommen kann. Es sei „gut so“, daß Mehrheitsentscheidungen „keine leere Drohung” seien, sondern jetzt auch realisiert würden, heißt es bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).[7]

„Unter Aufsicht stellen“

Ähnlich verhält es sich mit der aktuellen Debatte um Sanktionen gegen Polen. Unstrittig ist, daß die neue Regierung in Warschau mit ihrem Vorgehen gegen das Verfassungsgericht und mit der offenen Unterordnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unter die staatliche Politik die Freiheit der Medien aushebelt.

Offenkundig ist allerdings, daß dies – teils formell, teils informell – auch zahlreiche weitere EU-Staaten tun, darunter insbesondere Deutschland (german-foreign-policy.com berichtete [8]).

Auf deutschen Druck hat die EU-Kommission am gestrigen Mittwoch nun eine Prüfung der polnischen Regierungspolitik auf Rechtsstaatlichkeit eingeleitet; deutsche Politiker haben bereits offen mit Sanktionen gedroht:

Zweifelhafter „Mut zu Sanktionen“

Es „spricht viel dafür“, daß die EU „Warschau unter Aufsicht stellen“ werde, äußerte zu Monatsbeginn der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU), dem Sensibilität im Umgang mit Ländern, die bereits deutsche „Erfahrungen“ erlitten hatten, wohl eher fremd ist. Wenn „Verstöße gegen die europäischen Werte festzustellen“ seien, müßten „die Mitgliedstaaten den Mut zu Sanktionen haben“, forderte Volker Kauder, der Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU im Bundestag.[9] Da ist er wieder, der deutsche Stechschritt.

Anhand einer politischen Thematik, der inhaltlich kaum widersprechen kann, wem die Medienfreiheit am Herzen liegt, setzen Berlin und Brüssel ein Verfahren durch, mit dem widerspenstige Staaten auch auf anderen politischen Feldern zur Unterordnung unter den Willen der EU-Zentralmacht gezwungen werden können.

„Unflexible Strukturen überwinden“

Worauf die Disziplinierung nicht willfähriger EU-Staaten letztlich zielt, zeigen deutsche Vorstöße auf dem Gebiet der Außen- und Militärpolitik – also in dem Bereich, in dem die EU sich deutschen Vorstellungen zufolge als weltpolitische Macht behaupten und deshalb möglichst schlagkräftig sein soll.

In der EU-Außenpolitik können einige Entscheidungen mittlerweile per qualifizierter Mehrheit getroffen werden. In der EU-Militärpolitik ist das noch nicht der Fall. Berlin und Brüssel drängeln aber. „Die Mitgliedstaaten sollten langwierige und unflexible Entscheidungsstrukturen überwinden, damit die einschlägigen zivilen und militärischen Mittel schnell eingesetzt werden können“, fordert die konservative Europäische Volkspartei (EVP/also CDU/CSU) in einem aktuellen Strategiepapier.

Zudem spricht sie sich für die Einrichtung eines „permanenten Verteidigungsministerrates“ der EU aus, der entsprechend handlungsfähig wäre – womöglich per Mehrheitsentscheid (german-foreign-policy.com berichtete [10]).

Einen solchen haben deutsche Sozialdemokraten schon vor Jahren gefordert und erklärt, man müsse auch in militärischen Fragen „die Übertragung der Souveränität durch die EU-Staaten und die Transformation der Entscheidungsmacht auf eine demokratisch legitimierte EU-Ebene diskutieren“.[11]

Damit würde die Entscheidung über Krieg und Frieden den einzelnen EU-Staaten und damit der demokratischen Entscheidung ihrer Bevölkerungen entzogen. Die Zunahme von Mehrheitsentscheidungen und anderen Maßnahmen gegen nicht willfährige EU-Staaten treibt die Entwicklung in diese Richtung voran.

*) Quelle und Fußnoten: german-foreign-policy.com

[1] S. dazu Die Frage der Führung, Sarkozy, der Deutsche und Der nächste Krisensieg.

[2] Kauders Euro-Schelte: “Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen”. www.spiegel.de 14.11.2011. S. dazu Jetzt wird Deutsch gesprochen.

[3] S. dazu Eurokratie.

[4] Günther H. Oettinger: Déficit français: Bruxelles ne doit pas céder. Les Echos 21.11.2014. S. dazu Eine kontrollierte Entgleisung.

[5] S. dazu Die Politik des Staatsstreichs.

[6] Rainer Hank: Dieter Nuhr hat recht! www.faz.net 12.07.2015.

[7] Barbara Lippert: Mehrheitsentscheidungen in der EU sind keine leere Drohung. www.swp-berlin.org 29.09.2015.

[8] S. dazu Europäische Werte (I) und Europäische Werte (II).

[9] S. dazu Europäische Werte (II).

[10] EPP Group Position Paper: Towards a European Defence Union. Brussels, November 2015. S. dazu Europas Lebensstil.

[11] On the Way towards a European Army. Friedrich Ebert Foundation, London Office. June 2007. S. dazu Deutsches Europa und Treibende Kraft für die EU-Armee.

*) Peter Helmes, Befürworter eines „Europa der Vaterländer“, ist Träger des „Pour le Mérite Européen“, verliehen durch den damaligen Präsidenten der EU-Kommission, Gaston Thorn, und Initiator des „Europäischen Youth Forums“ der EU.

21.01.2016

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