Die deutsche Kollektivschuld ist wieder da – Ein Protest von Alfred Grosser

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Eigener Bericht

PAMO – zeitgeschichtliches Dokument – 29 –

Unter diesem Titel erschien am 28.12.2010 der untenstehende Leserbrief von Prof. Dr. Alfred Grosser in der FAZ. Anlässlich einer Deutschlandreise war er nach Berlin gefahren, um sich dort im DHM die Ausstellung „Hitler und die Deutschen“ anzuschauen.

Erfreut kann man sein, dass Alfred Grosser die kritische Bilanz seines Besuches nicht für sich behielt, sondern im Leserbrief „empört“ publiziert. Dankbar muss man ihm sein, dass er diese kritische Bilanz in einer Art didaktischer Skizze liefert, die geradezu meisterhaft einige markante Punkte benennt, an denen das Wesen des Fußfassens und des Verankertseins des NS-Regimes im Volk des Deutschen Reiches erkennbar wird. Hier sei nur auf Heuss und das Ermächtigungsgesetz oder auf den Widerstand im Volk hingewiesen. Aber Alfred Grossers Liste, so kurz sie sein mag, sei hier nicht wiederholt. Sie spricht im anschließenden Text für sich selbst.

Auffällig an ihr ist jedoch nicht nur die Treffsicherheit, mit der sie Alfred Grosser skizziert hat. Erst der Vergleich mit der heutigen Wirklichkeit des historischen Unterrichts in diesem Bereich der Zeitgeschichte ist im eigentlichen Sinne bestürzend. In kaum einem der gängigen Bücher finden sich heute Aussagen über die tatsächlichen Vorgänge in der Krolloper am 23. März 1933 und die damit verbundene Gewissenspein z.B. unseres späteren Bundespräsidenten Theodor Heuß. Man fragt sich bestürzt, wie sollen die Lehrer ihren Schülern eine Chance geben, etwa das zu ermessen, was damals wissende Menschen bewegte, wenn so etwas nicht zur Sprache kommt. Mit der Hoffnung allein, es wird schon einige Lehrer geben, die das als Fachlehrer selbst einbringen, ist es jedenfalls nicht getan.

An diesem Brief Grossers ist vieles interessant – auch sein Staunen, dass „die Kollektivschuld wieder da ist.“ Sie hat sich nach der Wende in diesem Land unterschwellig mehr und mehr verbreitet und ist heute so fest verankert wie nie zuvor. In welchen Rängen sie bereits akzeptiert ist, zeigt die Eilfertigkeit, in der im Auswärtigen Amt vor einigen Monaten „Das Amt und die Vergangenheit“ aufgenommen wurde. Inzwischen hat Horst Möller nachgewiesen, dass dieses Werk fehlerhaft, tendenziös und skandalös ist. Der Vorgang zeigt, dass es in einigen öffentlichen Ämtern sogar schon eine Art Gier gibt, sich der Idee kollektiver Schuld dieses Landes zu öffnen, ohne offenbar im geringsten der Überlegung nachzugehen, ob es nicht gute Gründe für die bisher sachlich begründete Vorsicht bei dieser Beurteilung gebe.

Eines sei hier noch angemerkt. Der Blick sei auf die Rezeption des Briefes von Alfred Grosser gelenkt, die nur die wenigsten verfolgt haben mögen. Obwohl er im Reigen der Leserbriefe markant ist, hat ihn die Leserbriefredaktion möglichst niedrig gehängt. Die FAZ hat ihm kein Forum gegeben, sondern nur zwei wohlbegründete Zustimmungen abgedruckt. Das waren bei weitem nicht alle Zusendungen. Jeder mag daraus seine Schlüsse ziehen.

Zunächst aber eine kurze Information über Alfred Grosser.

Er wurde 1925 in Ffm. geboren und emigrierte 1933 mit seinen Eltern nach Paris. Nach seinen Studien war er in leitenden Funktionen in verschiedenen wissenschaftlichen Instituten der Sorbonne und Institutionen der französischen Hauptstadt tätig, machte sich als Publizist und Kommentator im französischen Fernsehen und der Tageszeitung „Le Monde“ einen Namen, trat auch im deutschen Fernsehen auf und schrieb für die Wochenzeitung „Die Zeit“. 1975 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

In zahlreichen Publikationen erwies er sich als ausgewiesener Kenner der deutschen Geschichte und der politischen Verhältnisse im heutigen Deutschland. So zeichnete er bis in jüngste Zeit ein fundiertes und differenziertes Bild von diesem Land und dessen Bewohnern in einigen seiner bedeutenden Werke: „Bonn ist nicht Weimar”(1962), „Die Deutschlandbilanz” (1970/72 und „Von Auschwitz nach Jerusalem“ (2009). Er war und ist bis heute in Reden und Schriften bestrebt, ein sachgerechtes und abwägendes Urteil über die Deutschen und deren jüngere Vergangenheit zu geben, wie z.B. der nachstehende Leserbrief in der FAZ vom 28.12.10 zeigt. (Adolf Fiedler & Gerolf Fritsche, PAMO-Pressedienst)

FAZ 28.12.10 – „Ich komme aus Berlin zurück. Ich habe im Deutschen Historischen Museum die Ausstellung Hitler und die Deutschen” (FAZ. vom 14. Oktober) besucht. Ich befürchtete, der „Führer” könnte zu positiv dargestellt werden. Diese Furcht war unberechtigt. Und doch bin ich nach meinem Besuch voller Empörung über die Grundeinstellung des Ganzen. Das deutsche Volk war kollektiv schuldig. Seit sechzig Jahren, in Büchern und Unterricht, widerlege ich diese These. Hier fängt es schon mit dem Ende von Weimar an. Die Reichstagswahl vom November 1932, mit dem Rückgang der NSDAP, ist nicht da. Die Zahlen der schon nicht mehr freien Wahl vom 5. März 1933 werden verschwiegen. Sonst hätte man doch zeigen müssen, dass Hitler nicht die Mehrheit der Wähler hinter sich hatte und diese nur dank Alfred Hugenbergs DNVP erreichte. Zur Zweidrittelmehrheit brauchte Hitler andere Parteien. Die Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz wird nicht geschildert. Man hätte wenigstens die hervorragende Warnung der „Vossischen Zeitung” am Vortag bringen und das Zentrum (und auch Theodor Heuss) als Ja-Sager erwähnen können. Otto Wels und seinen Mut findet man nur ganz am Ende der Ausstellung, in einem Video-Apparat, den nur eine Person auf einmal suchend bedienen kann, um einiges zu erfahren über Kurt Schumacher, Dietrich Bonhoeffer, und viele andere, wobei Wichtiges gar nicht gezeigt wird, so die Priester-Abteilung im KZ-Dachau.

Überhaupt wird der Widerstand (sei es nur, wie er schon früh von Günter Weisenborn dargestellt wurde) in seinen verschiedenen Formen bagatellisiert. Man weiß doch heute, wie viele nicht jüdische Deutsche jüdischen Deutschen geholfen haben. Charlotte Knobloch hätte Zeugnis ablegen können, wie sie als Kind überleben konnte. Das Schlimmste sind irreführende, entstellende Texte. „Die Ermordung psychisch Kranker wurde in Kauf genommen”. Von denen, die wussten. Aber wussten wirklich „die” Deutschen darüber Bescheid? „Der Judenmord konnte den Deutschen nicht verborgen bleiben. Doch nahm man ihn hin mit einer Mischung von partieller Zustimmung, moralischer Indifferenz und zunehmender Angst vor Terrormaßnahmen”. Wer ist “man”? Und die FrageWer wusste?” ist heute noch schwer zu beantworten. Es wäre besser gewesen, nach der Machtergreifung zu zeigen, wie bereits 1933 die Berufsstände abgedankt haben so wie der ADGB, was zum 1. Mai 1933 richtig gezeigt wird mit der Beschlagnahmung der Gewerkschaftshäuser am 2. Mai.

Es wäre auch angebracht gewesen, zu zeigen, wie viele versuchten, nicht völlig unterzugehen. Die Geschichte der „Frankfurter Zeitung” bis zu ihrem Verbot wäre ein gutes Beispiel gewesen, aber das hätte den Gesamtbegriff „die Deutschen” in Frage gestellt. Der große Nachkriegsbürgermeister von Frankfurt, Walter Kolb, kam aus dem KZ. Der erste deutsche Redner, den wir in die Sorbonne eingeladen haben, hieß Eugen Kogon, wegen seines Buchenwald-Buches. Wo sind sie in der Ausstellung? Wo auch der Unterschied zwischen SS und Waffen-SS? Man frage Günter Grass!

Wo sind die verschiedenen Abstufungen des Mitmachens, des Mitläufertums? Wo die Ergebnisse der Forschung wie die von Marlis Steinerts Buch „Hitlers Krieg und die Deutschen”? Dieses Buch beweist allerdings, aufgrund der Gestapo-Berichte, wie gering die Kriegsbegeisterung gewesen ist und wie klein die Rolle der Judenfeindlichkeit war. Die vielgerühmte Ausstellung strotzt vor Einseitigkeit.

Als jemand, der seit Kriegsende versucht, „den“ Deutschen der Hitler-Zeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, bin ich, wie schon gesagt, empört.“

PROFESSOR DR. ALFRED GROSSER, PARIS

(Quelle: Pädagogischer Arbeitskreis Mittel- und Osteuropa, Gerolf Fritsche, Oppelner Str.8, 63071 Offenbach, 069-853994, kleinkaudern@gmx.de)
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