Die Gretchen-Frage: Wäre die Öffnung von Nord Stream 2 die Lösung aller Probleme?

Michael van Laack

Joana Cotar MdB – die digitalpolitische Sprecherin der AfD im Bundestag – hat heute in einem Tweet zwei Fragen gestellt, mit denen sie sich auf beiden Seiten der Nord Stream-Front unbeliebt zu machen befürchtet.

Ob das tatsächlich in der Breite der Befürworter und Gegner der Fall ist, weiß ich nicht. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass z. B. bei Parteikollegen wie Tino Chrupalla, Alice Weidel, Stephan Brandner, Christina Baum, Gunnar Linnemann usw. ob des in Frage 2 geäußerten Zweifels an der Aufrichtigkeit Putins Fassungslosigkeit herrscht.

Was die Gegner von Nord Stream 2 betrifft, dürften nur wenige die Frage 1 als ketzerisch bezeichnen, denn die meisten haben sie sich selbst bereits gestellt, aus ihrer Sicht schlüssig beantwortet und unterziehen sich nur selten der Mühe, ihre Haltung redundant Zweiflern gegenüber öffentlich zu begründen oder gar zu “missionieren”.

Wie auch immer! ich möchte nun eine kurze Antwort versuchen, die allerdings – wie jede Antwort auf so weit gefasste Fragen – unvollständig bleiben muss.

Zwei Pipelines hätten auch vor dem Krieg nicht mehr Gas bedeutet

Zunächst etwas Grundsätzliches: Würden wir Nord Stream 2 öffnen, müsste das nicht automatisch bedeuten, dass Gazprom auf die Zukunft hin mehr Gas an Deutschland liefern würde, als in den bestehenden Langzeitverträgen mit ihren »take or pay«-Klauseln, also den Mengen, die die Käufer in jedem Fall bezahlen müssen und damit auch abnehmen werden, vorgesehen ist.

Die zweite Pipeline war also zumindest mit Blick auf die kommenden Jahre nie angedacht, um größere Mengen zu liefern, sondern lediglich zu dem Zweck, eine sicherere Pipeline zu besitzen, bei der auch manche Durchleitungsgebühr weggefallen wäre, die wir bei Nord Stream 1 sehen und zudem als tragfähige Alternative, falls aus welchem Grund auch immer die erste Pipeline außer Betrieb genommen werden müsste.

Erpressungsversuche von Vertragsbrüchigen sind grundsätzlich nicht akzeptabel

Nun aber hat Russland die Verträge gebrochen, denn es liefert nicht einmal mehr die in den Klauseln garantierten Mindestabnahmemengen, da seit knapp einem dreiviertel Jahr (also schon vor dem Überfall auf die Ukraine) eine zunächst schleichende Reduzierung stattfand, die dann auf 80, 60, 40, 30 und nun 20 % der möglichen Höchstliefermenge gesenkt wurde.

So soll Deutschland gezwungen werden, die zweite Pipeline zu öffnen, um die vertraglich zugesicherte Liefermenge zu erhalten. Es handelt sich hier also um den Erpressungsversuch eines vertragsbrüchigen Lieferanten. So etwas darf man grundsätzlich nicht belohnen.

Hinzu kommt, dass Putin Deutschland wegen der Waffenlieferungen und der Sanktionen als „feindlich gesinnten Staat“ betrachtet. Feinde muss man nicht nur im Islam mit der Unwahrheit bedienen. Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass Putin – nachdem wir reumütig eingestanden haben, ohne sein Gas wirtschaftlich zusammenbrechen – diese Demütigung kurz auskostend für ein paar Wochen liefern und dann neue Bedingungen stellen würde. Z. B. Stopp der Waffenlieferungen, Rücknahme der Sanktionen, vielleicht auch Ausgleichzahlungen für den durch die Sanktionen in Russland entstandenen volkswirtschaftlichen Schaden. Oder gar die Forderung an die EU, die Ukraine zu einem Kapitulationsfrieden zu nötigen.

Geben wir nach, wird Russland seine Expansionspolitik fortsetzen

Aus diesen Gründen – um auf Joana Cotars Fragen zurückzukommen – und weil jeder Cent, der an Russland fließt, dessen Militärapparat stärkt, dürfen wir niemals die Öffnung von Nord Stream 2 befürworten. Sie würde uns (wenn überhaupt), nur kurzfristig in die Lage versetzen, die Gasspeicher zu befüllen, die Abhängigkeit von russischer Energie wiederherstellen und die EU insgesamt zu einem formbaren Lehmklumpen in Putins Händen mit Blick auf eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik machen.

Und warum manche glauben, Putin würde diesmal Wort halten? Entweder fehlt ihnen a) jegliche Abstraktionsfähigkeit, sie wenden b) sich immer der einfachsten Lösung zu, werden c) fürs glauben bezahlt oder fühlen sich d) derart von unserer sich peu à peu von einer Demokratie in ein politisch-religiös verwandelte Bundesrepublik Deutschland abgestoßen, dass sie tatsächlich glauben, Putin sei ein Verteidiger christlicher Werte und der echten Freiheit.

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