Ukrainische Flüchtlinge misstrauen den russischen Kriegsdienstverweigerern

Jannie Schipper*

“Für diesen Mann werde ich definitiv nicht kochen!” Die Ukrainerin Tanya ist wütend, ängstlich und enttäuscht. Sie hat gerade erfahren, dass bei ihrer nordholländischen Gastfamilie ein junger Russe einzieht: “Jetzt ist unsere neue Familie zerstört.”, befürchtet sie.

Amsterdam: Seit Präsident Putin damit begann, junge Männer aufzufordern, in der Ukraine zu kämpfen, hat ein große Fluchtbewegung eingesetzt. Einer dieser Kriegsdienstverweigerer ist ein Freund jener Familie, die der Ukrainerin Tanya (nicht ihr richtiger Name) und ihrem jungen Sohn in Nordholland ein neues Zuhause geboten hat. Tanya floh zu Kriegsbeginn nach Polen und kam per Zug zur Gastfamilie. “Es fühlte sich wirklich wie eine Familie an”, erzählt sie in einem emotionellen Telefongespräch, “Wir haben gemeinsam gegessen und über alles geplaudert. Auch hätten sie sich oft erkundigt, wie es unseren Verwandten in der Ukraine gehe.” Auch hätten sie abwechselnd gekocht.

Wer vor dem Kriegsdienst flieht, kann trotzdem ein Feind der Ukrainer sein

Als sie mal wieder gemeinsam am Küchentisch saßen, berichteten die Gasteltern, sie würden noch einen weiteren Gast bekommen. Es handelte sich um einen jungen Russen, der nicht für Putin kämpfen wollte. Die meisten russischen Kriegsdienstverweigerer fliehen in Länder, in die sie ohne Visum einreisen können. Allerdings kommen auch zehntausende Russen nach Europa.

“Wir werden in den letzten Tagen sehr häufig gefragt, wie man für einen befristeten Zeitraum in den Niederlanden Aufnahme finden könne”, sagt Kristina Pertasova von Russia Free NL. “Menschen aus allen Schichten des Volkes möchten einfach nur weg.”

Das Erste, was Tanya tat, als sie hörte, ein Russe werde im Haus der Gastfamilie aufgenommen: Sie sperrte sich in ihrem Zimmer ein, um zu weinen. Die Gasteltern versicherten, ihre Sicherheit und die ihres Sohnemanns sei nicht gefährdet. Sie sagten: ‘Wir würden niemals jemanden ins Haus aufnehmen, der euch Böses will”, erzählt Tanya. Dennoch bleibt die Ukrainerin beunruhigt. Denn es sitzt nicht lediglich nur eine Person mehr am Tisch, sondern jemand, den sie als Feind wahrnimmt.

Russen und Ukrainer unter einem Dach? Es ist kompliziert!

“Ich kann mich nicht vorstellen, wie ich jetzt noch für die ganze Familie inklusive dieses Mannes kochen kann”, sagt sie. “Beim [abwechselnden] füreinander Kochen handelt es sich nicht einfach nur darum, miteinander zu essen; sondern man tut das für Menschen, die man wertschätzt”. Außerdem stellt sie sich die Frage, ob sie bei Tisch noch frei über den Zustand der Ukraine sprechen kann, wenn ein russischer Gast mit am Tisch sitzt: “Ich weiß ja nicht, was er davon hält – wer versichert mir, dass er kein russischer Spion ist?”

“Auch die ukrainischen Flüchtlinge in anderen europäischen Ländern haben Angst vor den Russen, die jetzt aus ihrer Heimat fliehen.” so Tanya. Auseinandersetzungen zwischen Russen und Ukrainern gibt es in den Niederlanden bis jetzt nur wenig: Eine nationale Ikone in der russisch-orthodoxen Kirche zu Amsterdam wurde beschmiert. An der russischen Schule in Leiden, in der auch ukrainische Kinder ausgebildet werden, kam es während der Frühphase der Invasion zu Spannungen. In Rotterdam wurden Ukrainern die Reifen ihrer Autos durchstochen.

Je mehr Russen in die EU fliehen, umso unsicherer wird es

“Es handelt sich bis jetzt noch um kleine Vorfälle.” so Tanya. “Aber was wird passieren, wenn mehr und mehr Russen einreisen wollen? Während die ukrainischen Männer gegen die Russen kämpfen, leben ihre Frauen und Kinder hier in Europa ohne Schutz.” Sie findet es falsch, dass die geflohenen Russen wie die Ukrainer als Opfer betrachtet werden “Wären sie wirklich gegen den Krieg gewesen, hätten sie ihre Heimat schon vor Monaten verlassen können.“, sagt sie. „Dass sie es erst jetzt tun, liegt ausschließlich daran, weil sie nun um ihr eigenes Leben fürchten.”

Russische und ukrainische Flüchtlinge soll man nicht in eine Reihe stellen, schreiben auch Maria Schaidrova und Kostiantyn Gorobest – beides ukrainische Wissenschaftler an niederländischen Universitäten – in einem bisher unveröffentlichten Artikel. “Wer vor der Einberufung flieht, befürwortet dennoch oft den Krieg.” Dabei haben Russen mehrere Optionen, in Länder außerhalb Europas zu fliehen. Laut der beiden Experten sollten Asylanträge deshalb auch individuell beurteilt werden. Kollektiver Schutz sei hier nicht am Platze.

Bis das Misstrauen schwindet, werden Jahrzehnte vergehen

Pertasova versteht die Gefühle der Ukrainer, dennoch ist für sie klar: Jeder, der gefährdet ist, soll mit offenen Armen aufgenommen werden. “Ich verstehe, dass Leute sagen: Geh lieber [in deiner Heimat] auf die Straße, um gegen Putin zu agieren; aus sicherer Entfernung lässt es sich leicht reden” sagt die russische Aktivistin. “Es gibt jetzt ein riesiger Apparat, um Proteste unsanft niederzuschlagen. Leute, die aus Protest das Land verlassen wollen, darf man nicht damit bestrafen, sie in den Krieg zurückzuschicken.”

Tanya ist ihrer Gastfamilie noch immer dankbar für die Unterkunft – auch deshalb will sie ihre Geschichte nur unter einem Alias erzählen. Jedoch ist mit der Ankunft des russischen Gastes die persönliche vertrauensvolle Beziehung zur Gastfamilie erloschen. “Was auch weiter passieren mag, es wird nie mehr so sein wie zuvor.” Deshalb hat sie sich fest entschlossen, einen neuen Wohnsitz zu suchen.

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Der Artikel erschien am 04.10.22 im “Noordhollands Dagblad” unter der Überschrift “Oekraïense vluchtelinge Tanya is bang voor Russische ’vijand’ aan de keukentafel” (Bezahlschranke). Aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen von Theresa Geissler – Rohtext der Übersetzerin redigiert von Michael van Laack. Zwischenüberschriften von der conservo-Redaktion.

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