Ukrainekrieg: Ist Prigoschins Bataillon “Convoy” bereits Putins “Armee Wenck”?

Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist*

Die Feier zum Gedenken des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai 2023 wurde ein Desaster für Putin und Russland. Es ist verständlich, dass Putin in der derzeitigen Lage in Russland die Gedenkfeier anders gestalten musste. Es hätte mit etwas Phantasie einen würdevollen Rahmen geben können.

Es war nicht allein Russland, dass der Sieg errungen werden konnte. Es war der Sieg einer großen Koalition, der viel Leid über die beteiligten Staaten gebracht hat. Russland allein hatte nach russischen Daten 27 Millionen tote Zivilisten und Soldaten zu beklagen. Der feierliche Rahmen wäre durch Fahnenträger der beteiligten „ Siegernationen“ besser aufgenommen worden. Putin wollte deren Auftritt nicht haben. Eingeladen waren offenkundig lediglich Vertreter der Präsidenten der ehemaligen Sowjetrepubliken. Eine Überraschung.

Putins Rede: Goebbels konnte besser lügen

Seine Ansprache, die in die gesamte Welt übertragen wurde, war taktlos – eine Mischung von einigen wenigen Wahrheiten mit vielen Voll- und Halblügen. Ohne ausgestreckte Hand zur Versöhnung. Die jährliche große Parade auf dem Roten Platz war gestrichen worden – bis auf einen Panzer vom Typ 24, der den Roten Platz ohne technischen Ausfall überqueren konnte. Die obligatorische Luftshow war gestrichen worden – wie auch öffentliche Veranstaltungen in 20 Großstädten. In den Tagen vor dem 9. Mai gab es einen ungewöhnlichen Zwischenfall.

Über dem Kreml gab es in der Nacht einen Abschuss einer Drohne durch einen unbekannten Flugkörper, der natürlich einem politischen Feind zugeschrieben wurde. Allerdings konnte Russland keine Wrackteile vorzeigen, die die Herkunft des „ feindlichen“ Flugkörpers geklärt hätten. Der Angriff mit nur einer Drohne ist ungewöhnlich, zumal Putin in dieser Nacht nicht im Kreml war – wie später von offizieller Seite verkündet wurde. Mehr Fragen als Antworten.

Spekulationen über die “Großoffensive” gehen weiter

Der ukrainischen Flugabwehr ist ein Volltreffer gelungen. Sie hat die russische Hyperschallrakete Kh-47 abgeschossen, die in Russland als „Wunderwaffe“ gefeiert worden war. Hat die immer wieder angekündigte ukrainische Großoffensive bereits begonnen? Bei dem Begriff „ Großoffensive“ gibt es sehr unterschiedliche Größenordnungen durch Land- und Luftstreitkräfte. Über die Größenordnungen gibt es keine Informationen. Die ukrainischen Landstreitkräfte müssten eine harte Nuss knacken – die umfangreichen Verteidigungsbefestigungen der russischen Landstreitkräfte in der Breite und in der Tiefe. Die ukrainischen Stoßkräfte müssten die Sollbruchstellen erkundet haben. Durch solche Durchbruchstellen sollten ukrainische Stoßkräfte schnell in die Tiefe des Raumes vorstoßen.

Die nächsten Tage werden zeigen, ob es den ukrainischen Kräften gelungen ist, Einbruchstellen zu erzielen und Durchbrüche auszunutzen. Es gibt Meldungen der Ukraine, dass ihre Landstreitkräfte einige Geländegewinne erreichen konnten, die auch russische Einheiten zurückgedrängt haben. Es sieht danach aus, dass die Ukraine die in Bachmut verbliebenen russischen Kräfte entweder vernichten oder einkesseln wollten. Der Chef der „Wagnertruppe“, Jewgeni Prigoschin, verschärft seine Kritik an Putin, dem er unterstellt, dass er seiner Truppe zu wenig Munition liefert.

Ist Prigoschin Putins letzte Hoffnung?

Bei den irregulären Söldnertruppen gibt es eine interessante Entwicklung. In jüngster Zeit gibt es Informationen, dass unter dem „Dach“ der Wagnertruppe Prigoschin mit Igor Girkin ein neues Bataillon aufbaut, das hervorragend ausgebildet und ausgestattet sein soll. Der Name dieses schlagkräftigen Verbandes soll “Convoy“ lauten. Der ehemalige Oberst des Militärischen Geheimdienstes GRU, Igor Girkin, der zeitweilig „Verteidigungsminister“ der „Volksrepublik Donezk“ gewesen ist, ist bei den russischen Soldaten hoch angesehen.

Er gilt als harter Kämpfer und hat bereits einige Kriegsverbrechen auf seinem Kerbholz. Ihm wird von westlichen Staaten vorgeworfen, dass er als Vorgesetzter verantwortlich ist für den Abschuss des Passagierflugzeuges „Malaysia Airliner Flug 17“ mit 298 toten Passagieren und 15 Besatzungsmitgliedern. Als hauptgeschädigter Nation wurden die Ermittlungen und das anschließende Verfahren den Niederlanden übertragen. Das Gerichtsverfahren der Niederlande führte zu einer lebenslänglichen Haftstrafe von Oberst Birkin, die in seiner Abwesenheit verhängt wurde.

Deutschlands Soldaten sollten Mali verlassen

Es gibt eine neue Entwicklung in der „Wagnertruppe“, die in letzten Jahren auch in Afrika eingesetzt war. Die aktuelle Junta hat das Sagen in Mali. Sie hat eine Abordnung der „Wagnertruppe“ in ihrem Hauptquartier als ihren Führungsstab eingesetzt, der die Möglichkeiten der UN- Friedenstruppe sehr stark einschränkt. Frankreich, das den Aufbau der Friedenstruppe initiiert hat, hat unverzüglich seine Truppen abgezogen, während Deutschland sich verpflichtete, seinen Anteil bis April 2024 in Mali zu belassen.

Diese Entscheidung des Verteidigungsministers Pistorius ist schwer verständlich. Dieser Verbleib ist für die deutsche Einsatztruppe von rd. 1000 Soldaten ohne den starken französischen Anteil ein großes Sicherheitsrisiko. War man in Berlin überzeugt, dass der weitere Verbleib risikoärmer sein würde? Eines hat sich vor dem 9. Mai gezeigt: Ukrainischen Kampfflugzeuge haben ihre Angriffe auf die Krim verlegt, wo sie logistische Einrichtungen und Eisenbahnknotenpunkte bekämpft haben – um die Logistik und den Transport von russischen Verbänden zu erschweren. So wurde auf der Krim ein großes Treibstofflager der russischen Schwarzmeerflotte zerstört.

Der Verlust der Krim würde Putins Ende bedeuten

Für die ukrainische Führung ist die Halbinsel Krim ein strategisches Ziel hoher Priorität nach der Parole: Die Krim gehört zur Ukraine. Die früher angekündigte Gegenoffensive der russischen Streitkräfte ist augenscheinlich abgesagt oder verschoben worden Wann sollte die Ukraine den Kampf mit Luft- und Bodenkampftruppen beginnen? Die Ukraine sollte Beginn und Geographie der Offensive selbst bestimmen, aber sie sollte nicht zu lange warten. Ihre Geberländer haben sie während der „Winterkampfpause“ mit modernen Kampfpanzern und Aufklärungssystemen versorgt. Ihre Soldaten konnten regenerieren.

Wenn die Ukraine zu lange wartet, können die russischen Streitkräfte ihre Feldbefestigungen weiter befestigen. Es würde für die Ukraine schwerer werden, Ein- und Durchbruchstellen zu finden und zu öffnen für Stoßkräfte. Es droht eine politische Gefahr: Eine beginnende Kriegsmüdigkeit in Geberländern. Sie könnten vielleicht die Geduld verlieren. Die Unterstützung der Ukraine geschah auch unter Opfern der ukrainischen Bevölkerung mit Toten und Verwundeten. Massenhafte russische Luftangriffe haben ihre Häuser und Wohnungen stark beschädigt. Sie wollen den Sommer nutzen, mit dem Wiederaufbau zu beginnen.

Die ukrainischen Streitkräfte könnten und müssten die Logistik der russischen Streitkräfte schwächen und die Schiffe der Schwarzmeerflotte mit Drohnen aus deren Anlagen auf der Krim in das Asowsche Meer zu vertreiben. Sollte das gelingen, könnte Russland die Krim nicht mehr halten. Dies wäre ein großer Erfolg und die Voraussetzung für die Befreiung der Halbinsel Krim von russischen Truppen. Eine solche Entwicklung könnte für Russland Anlass sein für einen Waffenstillstand und anschließende Verhandlungen – ohne Putin, der mit seinem Überfall seinem Heimatland und seiner Bevölkerung auf Jahre schwer geschadet hat. Es wird Jahre dauern und viele Ressourcen kosten, die russischen Streitkräfte wieder zu einer mittleren Militärgröße zu entwickeln – ohne die frühere Angriffsfähigkeit. Entmilitarisierte Zonen im Westen Russlands unter Überwachung der Vereinten Nationen könnten jede Kriegsgefahr in Europa und in der Welt bannen.

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*) Brig. General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen und anschließend Berufssoldat. Einen Höhepunkt seiner Karriere bildete die Tätigkeit im Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, wo er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig war. In den 90er Jahren fand er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte Verwendung und war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt. Schon während seiner Dienstzeit verfasste Farwick mehrere Bücher und andere Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte. Im „Ruhestand“ engagierte er sich viele Jahre als Chefredakteur eines Newsservice für sicherheitsrelevante Themen und organisiert heute noch Tagungen zu diesem Thema an renommierten Instituten.

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