70 Jahre NATO: Begräbnis oder Geburtstagsfeier?

(www.conservo.wordpress.com)

Von Dieter Farwick BrigGen a.D. und Publizist *)

Wenn man die Äußerungen des französischen Präsidenten der letzten Tage ernst nimmt, ist die NATO „hirntot“. Also: Begräbnis. Wird der NATO – Gipfel im Dezember 2019 als Begräbnis enden oder als Renaissance?

Es wird keine Jubelfeier geben in festlicher Stimmung mit gegenseitigem Respekt und gegenseitigem Vertrauen. Es gibt auch keine Paraden. Man hat Angst vor China und Russland. Es wird – hoffentlich – auch kein Begräbnis werden.

Man sagt: „Totgesagte leben länger“ – mit Berechtigung auch für die NATO.

Sie hat in ihren 70 Jahren Höhen und Tiefen erfahren.

Hier einige markante Beispiele – nicht in chronologischer Folge:

# Die Erweiterung auf 29 Mitglieder nach dem Kollaps der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, die im Westen auch zu Forderungen zur Auflösung der NATO führte.

# Die Aufnahme Deutschlands – des Erzfeindes – nur neun Jahre nach ihrer Gründung,

# Das Ausscheiden Frankreichs aus der militärischen Organisation von 1966 bis 2009. Es war keine vollständige Rückkehr. In den integrierten NATO-Head Qarters gab es keine französischen Vertreter. In den NATO-Reforger-Übungen nahm Frankreich nicht mit Volltruppe teil. Frankreich galt Jahre als „unsicherer Kantonist“. Diese Rolle hat Deutschland übernommen. Frankreich war nie eine Führungsmacht in der NATO – im Gegensatz zu Großbritannien.

# Der Wechsel der NATO-Strategien von der „Massiven Vergeltung“ zur „Flexible Response“

# Der langjährige Konflikt zwischen den NATO-Partnern Türkei und Griechenland

# Der Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO – mit dem Einverständnis Russlands.

# Der friedliche Rückzug russischer Streitkräfte aus Mittel- und Südosteuropa

# Die Verurteilung der völkerrechtswidrigen Annexion Russlands mit harten Sanktionen – auch durch die NATO.

# Das Eingreifen Russlands in das souveräne Territorium der Ukraine mit der Loslösung zweier Provinzen.

# Das Heranrücken des NATO-Mitglieds Türkei einschl. des Kaufes moderner Luftabwehrraketen von Russland und die unheilvolle Zusammenarbeit beider Staaten in Nordsyrien gegen die Kurden, bilden einen schwelenden Konflikt, der die NATO schwer belastet – bis hin zur Frage der weiteren Mitgliedschaft der Türkei# Die Entscheidung der NATO zu mandatierten Kriseneinsätzen außerhalb des NATO- Vertragsgebietes – „out of area“. In diesen zahlreichen Einsätzen hat die NATO ihre Daseinsberechtigung unter Beweis gestellt – verbunden mit dem anspruchsvollen Programm „Partnership for Peace“, mit dem die NATO interessierte neutrale Staaten und ehemalige WP-Staaten auf freiwilliger Basis an die NATO-Philosophie, an deren Strukturen und Einsatzverfahren heranführte.

Mit seiner aggressiven Außenpolitik hat Russland die neutralen Staaten Finnland und Schweden in eine engere Zusammenarbeit mit der NATO geführt. Insgesamt ist die NATO-Geschichte eine „Erfolgsstory“.

Die NATO ist heute – trotz aller Mängel – eine politisch-militärische Allianz mit hohem Ansehen in der gesamten Welt. Bis kurz vor dem Gipfel haben verschiedene Staaten noch versucht – ihr Image zu verbessern – so auch Deutschland. So vergrößerte es seinen Anteil an den NATO-Verwaltungsausgaben (nicht zu verwechseln mit den Verteidigungsaus-gaben). Da sich Frankreich beharrlich weigerte, seinen bescheidenen Anteil ebenfalls zu erhöhen, übernahmen die USA und Deutschland deren Anteil von 18 Millionen Euro. Eine geschickte Geste. (vgl. „Der Spiegel 49/30.11.2019 „ Die kaputte Familie“). Etliche Staaten haben durch „kreative Buchführung“ ihre Verteidigungsausgaben „aufgehübscht“.

So hat Deutschland 800 Millionen Euro aus dem Topf für die Entwicklungshilfe in die Verteidigungsausgaben überführt. Ein durchschaubarer Trick.( vgl, „ Der Spiegel“ ebenda)

Der Beitrag der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO

Das abgrundtiefe Misstrauen, das besonders Frankreich in die NATO eingebracht hat, hat bislang die Solidarität und das Engagement der USA als „Primus inter pares“ nicht beeinträchtigt. Trotz Kritik an den hohen Beiträgen zu NATO-Verteidigung – die USA zahlen unvermindert rd. 80 Prozent der NATO-Verteidigungsausgaben, die 27 europäischen Staaten teilen sich die restlichen zwanzig Prozent. Ihr Engagement in Mittelosteuopa – besonders Polen – hat diese Region anerkennend in die NATO integriert. Seit Jahrzehnten bitten die US- Regierungen, die europäischen Mitgliedsstaaten mehr für ihre Verteidigung zu bezahlen. So beschlossen 2014 die damaligen NATO-Mitgliedsstaaten einstimmig, ihre Verteidigungsausgaben bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes zu steigern.

In Deutschland wird dieses Ziel schon nicht mehr erreicht, obwohl Deutschland – noch – zu den reichsten Ländern gehört. In der Grundsatzdebatte im Deutschen Bundestages am 27. November 2019 hat die Kanzlerin noch einmal offiziell erklärt, die Verteidigungsausgaben bis 2030 (!!!!) auf die versprochenen zwei Prozent zu erhöhen. 2024 wird gar nicht mehr erwähnt. Es kursiert eine Zahl 1,5 Prozent.

Eine Blamage für Deutschland und eine Ohrfeige für die USA und die Mehrheit der NATO-Mitgliedsstaaten, die 2024 in großer Mehrheit das Ziel erreichen werden.

Die Zahl von 2030 ist nicht in Stein gemeißelt. Bis dahin gibt es weitere drei Bundestagswahlen, die die politische Landschaft in Deutschland deutlich verändern werden.

Ein Fakt scheint sicher: Die Partei der Grünen wird an der Regierung beteiligt sein – mit negativen Aussichten für die Verteidigungsausgaben Deutschlands. Die Alt-Parteien werden sich noch stärker pazifistisch, umweltfreundlich und grün „anstreichen“, um ein Stück des Kuchens zu ergattern, der insgesamt kleiner werden wird – siehe der dramatische Politikwechsel des früher sehr konservativen bayerischen Ministerpräsidenten Söder, der plötzlich sogar Kanzlereigenschaften haben soll.

Die Kritik der SPD an höheren Verteidigungsausgaben zeigt Gedächtnisschwund. Auch der derzeitige Bundespräsident hat als Außenminister das Abkommen unterschrieben. Vergessen? Die USA müssen und werden auf dem Gipfel reagieren müssen, wenn sie nicht zum Papiertiger mutieren wollen.

Der Beitrag Europas für die NATO

Heute zugängliche Dokumente machen deutlich, dass es Absicht der damaligen Sowjetunion und der WP-Staaten war, Europa – auch mit dem Einsatz von taktischen Nuklearwaffen – in Tagen und Wochen zu erobern. Diese Bedrohung war kein Hirngespinst von „Kalten Kriegern“. Die europäischen Staaten haben sich unter dem nuklearen Schutzschirm bequem eingerichtet. Der Vorwurf von „ Trittbrettfahrern“ ist berechtigt. Es wurden hohe Friedensdividenden „gezahlt“.

So ist die Bundeswehr heute nur „bedingt einsatzbereit“. Sie ist seit Jahrzehnten unterfinanziert, personell und materiell ausgezehrt.

So steht es seit Jahren in den Jahresberichten der sozialdemokratischen Wehrbeauftragten. Abgehakt. Eine autonome europäische Verteidigungsfähigkeit, wie sie auch Macron – unterstützt durch Frau von der Leyen, Frau Merkel und AKK – fordert, wird es auf absehbare Zeit nicht geben.

Es ist zu hoffen, dass Großbritannien im Bündnis der NATO verbleibt. Dessen „fighting spirit“ ist ein Hoffnungsschimmer. Denn eine Bedrohung besteht weiterhin. Es gibt keine erschreckenden Panzerarmeen mehr, sondern es gibt die „ hybride Kriegsführung“, mit der versucht wird, den Behauptungswillen der einzelnen Staaten und ihren Nachbarn zu zerstören.

Der chinesischen General Sun Tsu hat schon vor 2500 Jahren in seinem Standardwerk „Die Kunst des Krieges“ postuliert „Wahrhaft siegt, wer nicht kämpfen muss“.

Das hat in der Ukraine – inkl. Krim – funktioniert. China und Russland lehren Sun Tsu in ihren Universitäten und Militärakademien. Es ist eine Gesamtstrategie, die nicht-militärischen und militärischen Kräfte und Mittel auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet. Die chinesische Globalstrategie „One belt, one road“ ist ein Beispiel für Chinas Denken und Handeln.

Die Tentakeln reichen bereits heute nach Griechenland, Italien und Deutschland. Dort zum großen Umschlaghafenhafen in Duisburg, wo bereits heute superschnelle Züge Güter und Produkte für Transportschiffe bringen – zur Weiterfahrt innerhalb Europas.

In Asien geht China brutal vor. Es vergibt großzügig Darlehen zu marktüblichen Zinsen für riesige Bauvorhaben, die die Infrastruktur für seine Globalstratgie“ One belt – one road“ bilden sollen. Es ist eingeplant, dass die Kreditnehmer irgendwann die Zinsen nicht mehr zahlen können. China steigt ein – mit chinesischen Arbeitskräften und chinesischem Material. Einige asiatische Staaten besitzen heute riesige Flugplätze mit Personal, aber ohne Passagiere. Ein gutes Geschäftsmodell für China, nicht für die Länder, die heute noch ärmer sind als vorher.

Was hat das mit der NATO zu tun?

Sie muss diese Entwicklungen in ihre Risikoanalysen einbeziehen und ihre Mitgliedstaaten für diese neuen Bedrohungen sensibilisieren – und ausbilden. Wie bereits gesagt: Wir müssen uns nicht mehr primär auf die Verteidigung gegen Panzerarmeen in der norddeutschen Tiefebene vorbereiten. Cyber warfare, Aufklärungs- und Waffensysteme im Weltraum, Digitalisierung, Robottechnik, breite Anwendung von Künstlicher Intelligenz werden das Kriegsbild der Zukunft bestimmen. Diese offensiven Fähigkeiten überfordern jeden noch so starken Einzelstaat, aber auch Europa ohne die nordatlantischen Partner.

Eine Renaissance des europäischen Behauptungswillens ist denkbar und möglich

Ohne die transatlantischen USA und Kanada mit ihren geopolitischen Gegebenheiten und möglichen Strategien ist Europa nicht in der Lage, denkbare und mögliche Szenarios erfolgreich zu bewältigen. Das müssen Macron und seine „Jünger“ schnell einsehen. Erst in zweiter Linie geht es um militärische Mittel. Ohne angemessenen Behauptungs- und Verteidigungswillen sind diese Mittel nur die Hälfte wert.

Die Bevölkerung in den NATO-Mitgliedsländern muss über die derzeitigen sicherheitsrelevanten Risiken und Gefahren informiert werden. Es muss auch – wieder – überzeugend der Bevölkerung die Frage gestellt und beantwortet werden: „Wofür kämpfen wir?“ Das sieht heute nicht erfolgsversprechend aus. Die Frage „ Kämpfen für Talinn?“ wird heute von vielen Bürgern nicht verstanden. „Was heißt Kämpfen“? Und „Was bedeutet Tallin“? Heute treibt eine andere Frage tausende Menschen – besonders junge – auf die Straße: „Klimawandel“. Sofort! In zwei bis drei Jahren! Sonst ist die Erde unwiderruflich zerstört. Es fehlen überzeugende Persönlichkeiten in NATO/EU, die gegen die Massenhysterie und gegen Weltuntergangsszenarios mit Überzeugung und Fakten argumentieren.

Klimawandel und Erdwärmung sind global von sicherheitspolitischer Bedeutung.

Diese Fragen sind es wert, seriös untersucht zu werden, aber nicht mit Hysterie und der Pflege von Feindbildern. Wir müssen Foren bilden, wo die Generationen die Chance haben, gegenseitiges Misstrauen abzubauen und nach praktikablen und bezahlbaren Lösungen zu suchen. Es gibt wenig Sinn, den Abbau von fossiler Energie zu stoppen, bevor die Trassen für die Übertragung der Energie fertiggestellt und über einen angemessenen Zeitraum getestet sind. Die Generation unserer Großeltern und Eltern hat Deutschland nach zwei verheerenden Weltkriegen unter Opfern wieder aufgebaut.

Warum soll uns die Lösung brennender Fragen heute und in Zukunft nicht gelingen?  

Ein ungewöhnlicher Vorschlag: Die deutsche Kanzlerin, die wegen der niedrigen Verteidigungsausgaben Deutschlands von den meisten Beteiligten sehr kritisch betrachtet wird, könnte einen Überraschungscoup landen. In einer Tischvorlage – oder in einer frühen Rede – könnte sie erklären, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben in festgelegten Jahresschritten bis 2024 auf die zugesagten 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöhen wird. Basta!

Die Karten würden neu gemischt. Deutschland würde sich als respektiertes Mitglied in den Kreis der 29 Staaten zurückmelden. Das könnte den Ruck erzeugen, der in der NATO notwendig ist. Trump würde sich zufrieden zeigen, Macron wäre enttäuscht und Erdogan isoliert.

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*) Brig.General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.
Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.
Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.
In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt.
Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegenerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.
Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.
Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.
Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.
www.conservo.wordpress.com      2.12.1019
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